Meine geheime Autobiographie - Textedition
unterschieden und in solcher Quantität aufgefunden werden könne, dass ein Beobachter sagen dürfe: Dies ist ein Mensch, keine Prozession.
**** Man betrachte die erste der aufgeführten Lügen: dass es in der Welt so etwas wie Unabhängigkeit gebe; dass diese in Individuen existiere, in Körperschaften von Menschen existiere. Wenn unter ganzen Ozeanen und Kontinenten an Beweisen überhaupt etwas bewiesen ist, dann doch dies, dass beim Menschengeschlecht die Eigenschaft der Unabhängigkeit fast völlig ausgelassen wurde. Die verstreuten Ausnahmen von der Regel unterstreichen das nur, erhellen es, heben es grell hervor. Die gesamte Bevölkerung Neuenglands wechselte sich jahrelang widerspruchslos darin ab, in Eisenbahnzügen zu stehen, ohne dass eine Beschwerde über ihre Lippen gekommen wäre, bis diese ungezählten Millionen endlich einen einzigen unabhängigen Mannhervorbrachten, der auf seine Rechte pochte und darauf bestand, dass die Bahngesellschaft ihm einen Sitzplatz zuwies. Statistiken und das Wahrscheinlichkeitsgesetz rechtfertigen die Annahme, dass Neuengland vierzig Jahre brauchen wird, um einen nächsten solchen Mann heranzuzüchten. Es gibt ein Gesetz mit dazugehöriger Strafandrohung, das Zügen verbietet, den Bahnübergang bei der Anstalt für mehr als fünf Minuten zu blockieren. Jahrelang mussten Leute und Kutschen jede Nacht fast zwanzig Minuten warten, während Neuengland-Züge diesen Bahnübergang mit Beschlag belegten. Ich habe Männer heftig über dieses unverschämte Unrecht schimpfen hören – gewartet haben sie trotzdem.
Wir sind verständige Schafe; wir warten ab, um zu sehen, wohin die Herde läuft, und dann laufen wir mit. Wir haben zwei Meinungen: eine private, die wir nicht zu äußern wagen, und eine andere – die wir aussprechen –, zu der wir uns zwingen, um Mrs. Grundy zufriedenzustellen, bis die Gewohnheit bewirkt, dass wir uns dabei wohl fühlen, und der Reflex, sie zu verteidigen, uns schon bald dazu bringt, sie zu lieben, in sie vernarrt zu sein und zu vergessen, wie jämmerlich wir zu ihr gekommen sind. Schauen Sie sich die Politik an. Schauen Sie sich die Kandidaten an, die wir in einem Jahr hassen und gegen die zu stimmen wir im nächsten nicht wagen; die wir in einem Jahr mit unvorstellbarem Dreck bewerfen und im nächsten, vor der Tribüne kniend, anbeten – und so treiben wir’s, bis uns das gewohnheitsmäßige Augenverschließen vor der Beweislast des vergangenen Jahres in Kürze zu dem ehrlichen und törichten Glauben an die Beweislast dieses Jahres verleitet. 9 Schauen Sie sich die Tyrannei der Partei an – die sich Parteibindung, Parteiloyalität nennt –, eine von hinterhältigen Männern zu selbstsüchtigen Zwecken erfundene Schlinge, die Wähler zu Sachen, Sklaven, Kaninchen macht; und währenddessen brüllen ihre Herren und sie selbst Unsinn über Freiheit, Unabhängigkeit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit, sind sich des grandiosen Widerspruchs nicht im Geringsten bewusst; vergessen oder übersehen, dass eine Generation früher ihre Väter und die Kirchen dieselben Blasphemien brüllten, als sie ihre Türen vor dem gejagten Sklaven verschlossen, die Handvoll seiner menschenfreundlichen Beschützer mit Bibeltextenund Stöcken schlugen, die Beleidigungen hinunterschluckten und seinem Südstaatenherrn die Stiefel leckten.
Wenn wir lernen wollen, was das menschliche Geschlecht, bei Licht betrachtet, wirklich
ist
, brauchen wir es nur in der Wahlzeit zu beobachten. Ein Geistlicher aus Hartford begegnete mir auf der Straße, er sprach von einem neuen Kandidaten – prangerte mit scharfen, ernsten Worten dessen Nominierung an, mit Worten, die wegen ihrer Unabhängigkeit, ihrer Mannhaftigkeit erfrischend waren. 10 Er sagte: »Vielleicht sollte ich stolz sein, denn dieser Kandidat ist ein Verwandter von mir; aber im Gegenteil, ich fühle mich beschämt und angewidert; denn ich kenne ihn sehr gut – sehr intim –, und ich weiß, dass er ein skrupelloser Schurke ist und schon immer war.« Sie hätten diesen Geistlichen vierzig Tage später sehen sollen, wie er den Vorsitz bei einer politischen Veranstaltung führte; wie er drängte und flehte und schwärmte – und Sie hätten ihn hören sollen, wie er den Charakter des nämlichen Kandidaten beschrieb. Sie hätten vermutet, er beschreibt El Cid und Mutherz und Sir Galahad und den »Ritter ohne Furcht und Tadel«, alle in einer Person. War er aufrichtig? Ja – in dem Moment schon; und darin liegt das Pathos all
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