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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Anmaßung, wenn eine andere Partei auch nur einen Teil dieser Macht anstrebe. Nichts kann für ein Land schlimmer sein. Alle Macht in die Hände einer Partei zu legen und dort zu belassen heißt, eine schlechte Regierung und
den
sicheren und allmählichen Verfall der öffentlichen Moral
zu zementieren. Die Parteien sollten fast gleich stark sein, damit die Führer auf beiden Seiten die allerbesten Männer auswählen müssen, die sie finden können. Wenn sie können, sollten demokratische Väter ihre Söhne zwischen den beiden Parteien aufteilen und auf diese Weise ihr Bestes tun, um das Kräfteverhältnis auszugleichen. Ich habe nur einen Sohn. Er ist noch klein, aber ich weise ihn jetzt schon an, überrede ihn, bereite ihn vor, wenn er mündig wird, gegen mich zu stimmen, auf welcher Seite ich auch stehen mag. Er ist bereits ein guter Demokrat, und ich will, dass er ein guter Demokrat bleibt – bis ich selbst Demokrat bin. Dann werde ich ihn, wenn ich kann, von der anderen Partei überzeugen.«
    Es kam mir vor, als sei dieser ungebildete Mann zumindest ein weiser Mann. Und von diesem Tag bis heute habe ich nie eine Parteiliste für alle Ämter gewählt. Von diesem Tag bis heute habe ich nie irgendeiner Partei angehört. Von diesem Tag bis heute habe ich nie irgendeiner Kirche angehört. Ich bin in diesen Angelegenheiten absolut frei geblieben. Und in dieser Unabhängigkeit habe ich einen geistlichen Trost und einen inneren Frieden von unschätzbarem Wert gefunden.
    Als die republikanische Führung von Blaine als ihrem wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten zu sprechen begann, waren die Republikaner von Hartford sehr betrübt und glaubten seine Niederlage vorauszusehen, falls er nominiert würde. Aber sie hatten keine große Sorge, dass er nominiert würde. Der Parteitag trat in Chicago zusammen, und die Abstimmung begann. Bei mir zu Hause spielten wir Billard. Sam Dunham war da, außerdem F. G. Whitmore, Henry C. Robinson, Charles E. Perkins und Edward M. Bunce. Wir wechselten uns beim Spielen ab und erörterten zwischendurch die politische Situation. George, der farbige Butler, war unten in der Küche und hielt am Telefon Wache. Sobald im politischen Hauptquartier der Stadt ein Auszählungsergebnis einging, wurde es telefonisch nach Hause durchgegeben, und George meldete es uns durch die Sprechrohranlage. Keiner der Anwesenden rechnete ernsthaft mit Mr. Blaines Nominierung. Alle diese Männer waren Republikaner, hegten aber keine Sympathie für Blaine. Zwei Jahre lang hatte der
Hartford Courant
Blaine der Lächerlichkeit und der Schande preisgegeben. Täglich hatte die Zeitung ihn bloßgestellt, sein politischesVerhalten gnadenlos kritisiert und die Kritik mit tödlichen Fakten belegt. Bis dahin war der
Courant
eine Zeitung gewesen, bei der man darauf bauen konnte, dass sie ihre Meinung zu den prominenten Männern beider Parteien freimütig äußerte und ihr Urteil wohlerwogen und vernünftig war. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, mein Vertrauen in den
Courant
zu setzen und sein Verdikt zum Nennwert zu nehmen.
    Das Billardspiel und die Diskussion gingen immer weiter, und irgendwann am Nachmittag teilte uns George durch die Sprechrohranlage eine lähmende Überraschung mit. Mr. Blaine war Kandidat geworden! Die Billardqueues fielen krachend zu Boden, und eine Zeitlang blieben die Spieler stumm. Niemand wusste, was er da noch sagen sollte. Dann brach Henry Robinson das Schweigen. Bekümmert sagte er, was für ein Unglück es sei, diesen Mann wählen zu müssen. Ich entgegnete:
    »Aber wir
müssen
ihn doch gar nicht wählen.«
    Robinson fragte: »Wollen Sie damit sagen, dass Sie ihn nicht wählen werden?«
    »Ja«, antwortete ich, »genau das will ich damit sagen. Ich werde ihn nicht wählen.«
    Die anderen fanden allmählich ihre Stimme wieder. Sie sangen dieselbe Melodie. Sie sagten, wenn die Delegierten einer Partei einen Mann wählten, sei die Sache besiegelt. Wenn sie eine unkluge Wahl träfen, sei das eben Pech, aber kein loyales Parteimitglied habe das Recht, seine Stimme zu verweigern. Es gebe eine klare Verpflichtung, der man sich nicht entziehen dürfe. Man müsse den betreffenden Kandidaten wählen.
    Ich erwiderte, keine Partei habe das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich wählen soll. Wenn Parteiloyalität eine Form des Patriotismus sei, dann sei ich kein Patriot, und für einen solchen hielte ich mich ohnehin nicht unbedingt, denn was die große Masse der Amerikaner als patriotischen Kurs

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