Meine geheime Autobiographie - Textedition

will ich diesmal nur ein oder zwei Einzelheiten erörtern. Ich möchte ihn von diesem Standpunkt – von dieser Prämisse aus betrachten: dass er zu keinem nützlichen Zweck erschaffen wurde, aus dem einfachen Grund, dass er keinem gedient hat; dass er höchstwahrscheinlich nicht einmal
vorsätzlich
erschaffen wurde; und dass der Umstand, dass er sich von der Austernbank zu seiner gegenwärtigen Position hochgearbeitet hat, für seinen Schöpfer vermutlich eine Sache des Erstaunens und Bedauerns war. **** Denn seine Geschichte, in allen Breiten, allen Zeiten und unterallen Umständen, erbringt Ozeane und Kontinente von Beweisen dafür, dass er von allen Geschöpfen, die erschaffen wurden, das verabscheuungswürdigste ist. Von der ganzen Brut ist er der Einzige – der Alleinige –, der Bosheit besitzt. Diese ist das niederträchtigste aller Gefühle, Temperamente und Laster – das hassenswerteste. Das, was ihn unter Ratten, Maden, Trichinen stellt. Er ist das einzige Geschöpf, das Schmerz zum Zeitvertreib zufügt in dem vollen Bewusstsein, dass es Schmerz
ist
. Aber falls die Katze weiß, dass sie Schmerz zufügt, wenn sie mit der ängstlichen Maus spielt, müssen wir hier eine Ausnahme machen; wir müssen zugeben, dass der Mensch der Katze in einer Hinsicht moralisch ebenbürtig ist.
Alle
Geschöpfe töten – Ausnahmen scheint es nicht zu geben; aber auf der Liste ist der Mensch der Einzige, der zum Vergnügen tötet; er ist der Einzige, der aus Bosheit tötet, der Einzige, der aus Rache tötet. Also – auf der ganzen Liste ist er das einzige Geschöpf, das eine niedrige Gesinnung hat.
    Soll man ihn für seine edlen Eigenschaften rühmen, für seine Sanftheit, seine Freundlichkeit, seine Liebenswürdigkeit, seine Barmherzigkeit, seinen Mut, seine Hingabe, seine Geduld, seine Seelenstärke, seine Umsicht, die verschiedenen Vorzüge und Reize seines Geistes?
All
das teilen die anderen Tiere mit ihm, und doch sind sie frei von der Schwärze und Verderbtheit seines Charakters.
    **** In der Welt sind gewisse süß duftende, mit Zucker überzogene Lügen gebräuchlich, die zu unterstützen und zu verewigen sich offenbar alle klugen Menschen stillschweigend verschworen haben. Eine davon lautet, es gebe in der Welt so etwas wie Unabhängigkeit: Unabhängigkeit des Denkens, Unabhängigkeit der Meinung, Unabhängigkeit des Handelns. Eine andere lautet, die Welt liebe es, Unabhängigkeit zu
erleben
– bewundere sie, beklatsche sie. Eine dritte, es gebe in der Welt so etwas wie Toleranz – in der Religion, in der Politik und dergleichen; und mit ihr geht die bereits erwähnte Behelfslüge einher, Toleranz werde bewundert und beklatscht. Jede dieser Stammlügen bringt viele Astlügen hervor: nämlich die Lüge, nicht alle Menschen seien Sklaven; die Lüge, Menschen seien froh, wenn andere Menschen Erfolg haben; froh, wenn sie gedeihen; froh, sie in große Höhen aufsteigen zu sehen; traurig, sie wieder fallen zu sehen. Und noch andere Astlügen :nämlich, der Mensch verfüge über Heldenmut; er bestehe nicht nur aus Bosheit und Verrat; bisweilen sei er kein Feigling; es sei etwas an ihm, das fortbestehen müsse – im Himmel, in der Hölle oder sonst wo. Und die anderen Astlügen, nämlich: dass das Gewissen, die moralische Hausapotheke des Menschen, nicht nur vom Schöpfer geschaffen, sondern dem Menschen eingepflanzt sei, bestückt mit den richtigen, einzig wahren und echten Verhaltenskorrektiven – und eine ebensolche Hausapotheke mit denselben gleichbleibenden und unveränderten Korrektiven sei unter allen Nationen und allen Epochen verteilt. Und noch eine Astlüge, nämlich dass ich ich sei und du du; dass wir Einheiten seien, Individuen mit einer eigenen Natur, statt das Ende einer bandwurmlangen Ewigkeit von Vorfahren, die Glied für Glied in einer Prozession zurückreichen – und weiter zurück – und noch weiter zurück – bis zu unserem Ursprung bei den Affen, und unsere sogenannte Individualität ist nur ein verfaulter ranziger Brei aus ererbten Instinkten und aus Lehren, die sich Atom für Atom, Gestank für Gestank aus der ganzen Linie dieser jämmerlichen Reihe herleiten, und es gibt darin nicht einmal so viel neue und originale Materie, dass man sie auf einer Nadelspitze balancieren und unter einem Mikroskop untersuchen könnte. Nahezu abstrus macht das die Annahme, es gebe in einem Menschen so etwas wie eine persönliche, originale und verantwortliche Natur, die von dem, was an ihm nicht original ist,