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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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sein Wissen, dass der »Bär« da war und sich gleich auf ihn stürzen würde, nicht verringerten.
    Es ist kaum zu glauben, dass Doktor John jemals eine groteske oder übermütige Anekdote hätte erzählen wollen. Dergleichen scheint überhaupt nicht zu seinem sanften, ruhigen Gemüt zu passen, das – aber lassen wir das. Ich versuchte, ihm das Anekdotenerzählen beizubringen, und zwei, drei Tage lang tat er sein Bestes, sich darin zu vervollkommnen – doch gelang es ihm nicht. Es war das eindrucksvollste Schauspiel aller Zeiten. In ganz Edinburgh gab es in seinem Bekanntenkreis keinen Menschen, keinen Hund, der vor Staunen nicht erstarrt wäre, wenn er das Zimmer betreten und gesehenhätte, wie sich Doktor John an der Anekdote versuchte. Es war jene Anekdote, die ich Hunderte Male auf der Bühne erzählt habe und die es mir angetan hatte, weil sie das Publikum unweigerlich zum Lachen brachte. Es war der Bericht eines Stotterers über die Heilung von seinem Gebrechen – die dadurch bewerkstelligt wird, dass er in die Mitte jedes Worts, das er aufgrund seiner Sprechhemmung nicht zu Ende bringen kann, ein Pfeifen einführt. Und so ist sein ganzer Bericht ein absurdes Gemisch aus Stottern und Pfeifen – unwiderstehlich für ein so richtig zum Lachen aufgelegtes Publikum. Doktor John hatte sich zwar die mechanischen Details der Anekdote angeeignet, war aber nicht imstande, diese Details mit Ausdruck zu beseelen. Die ganze Zeit über gab er sich außergewöhnlich ernst und feierlich, und als er endlich zu dem triumphierenden Schlusssatz gelangte – aber ich muss diesen Satz zitieren, oder der Leser wird mich nicht verstehen. Er ging so:
    »Der Arzt hat mir gesagt, immer wenn ich sto- (Pfeifen) sto- (Pfeifen) sto-(Pfeifen)
- ottern
will, muss ich pfeifen; und das hab ich auch getan, und das hat mich g- (Pfeifen) g- (Pfeifen) g- (Pfeifen)
-anz
geheilt!«
    Der Doktor konnte diese triumphierende Pointe einfach nicht meistern. Er stotterte und pfiff und pfiff und stotterte sich ernst durch seinen Text, und am Ende kam die Pointe mit der weihevollen Würde des Richters heraus, der über den Mann mit der schwarzen Kapuze vor dem Gesicht das Urteil verhängt.
    Er war das liebenswerteste Geschöpf der Welt – mit Ausnahme seiner betagten Schwester, die genauso war wie er. Sechs Wochen begleiteten wir ihn jeden Tag bei seinen Hausvisiten mit der Kutsche. Er hatte stets einen Korb Weintrauben bei sich, und wir brachten Bücher mit. Diesen Brauch pflegten wir seit der ersten Besuchsrunde und behielten ihn bis zum Ende bei – was auf eine Bemerkung von ihm zurückging, die er machte, als er am ersten Halteplatz aus der Kutsche stieg, um einen Patienten aufzusuchen: »Amüsieren Sie sich, während ich hineingehe und die Bevölkerung reduziere.«
     
    Als Kind hatte Susy ein feuriges Temperament; und es kostete sie viel Zerknirschung und viele Tränen, bevor sie lernte, es zu zügeln; danach aber war es ein heilsames Salz und ihr Charakter seinethalben umso stärker und gesünder.Es versetzte sie in die Lage, mit Würde gut zu sein; es bewahrte sie nicht nur davor, aus Eitelkeit gut zu sein, sondern sogar vor dem bloßen Anschein. Wenn ich auf die längst entschwundenen Jahre zurückblicke, erscheint es mir ganz natürlich und verzeihlich, dass ich mit Vorliebe und sehnsüchtiger Rührung bei solchen Begebenheiten verweile, die uns ihr junges Leben schön erscheinen ließen, und dass ich die wenigen und belanglosen Fehltritte unerwähnt und ungetadelt lasse.
    Im Sommer 1880, als Susy gerade acht Jahre alt war, weilte die Familie auf der Quarry Farm, wo wir damals unsere Sommer verbrachten, auf einem hohen Hügel drei Meilen von Elmira, New York, entfernt. Die Heuernte stand bevor, und Susy und Clara zählten die Stunden, die ihnen ein großes Ereignis bringen sollten; man hatte ihnen versprochen, sie dürften auf den Wagen klettern und von den Wiesen hoch oben auf dem Heuberg nach Hause fahren. Dieses gefährliche Privileg, das ihrem Alter und ihrer Spezies so teuer war, hatte man ihnen noch nie zuvor zugestanden. Ihre Aufregung kannte keine Grenzen. Sie konnten über nichts anderes als dieses epochemachende Abenteuer reden. Doch am Morgen des bedeutsamen Tages ereilte Susy ein Missgeschick. In einem jähen Ausbruch von Leidenschaft wies sie Clara zurecht – mit einer Schaufel, einem Stock oder etwas Ähnlichem. Jedenfalls wog das begangene Delikt so schwer, dass es die im Kinderzimmer erlaubten Grenzen eindeutig überschritt.

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