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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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angeführten Einzelheiten in ihrer eigenen holprigen Sprache vor, nachdem sie in der Verschwiegenheit des Kinderzimmers lange darüber gegrübelt hatte.
    Ein Jahr später tastete sie sich allein durch einen weiteren dunklen Morast, diesmal aber erreichte sie einen Rastplatz für ihre Füße. Eine Woche lang hatte es ihre Mutter nicht zum Abendgebet des Kindes in dessen Zimmer geschafft. Sie sprach davon – bedauerte es und sagte, an diesem Abend werde sie kommen und hoffe, jeden Abend kommen zu können und Susy wie früher beten zu hören. Als sie merkte, dass das Kind ihr antworten wollte, aber offensichtlich Mühe hatte, seine Antwort zu formulieren, fragte sie, ob es einProblem gebe. Susy erklärte, Miss Foote (die Gouvernante) habe sie über die Indianer und ihren religiösen Glauben unterrichtet; augenscheinlich hätten diese nicht nur einen Gott, sondern mehrere. Das hatte Susy nachdenklich gemacht. Daraufhin hatte sie aufgehört zu beten. Sie änderte diese Aussage – das heißt, sie schränkte sie ein –, indem sie sagte, sie bete nicht mehr »auf dieselbe Art« wie früher. Ihre Mutter sagte:
    »Erzähl mir davon, Liebling.«
    »Na ja, Mama, die Indianer glaubten es zu wissen, aber jetzt wissen wir, dass sie sich geirrt haben. Irgendwann könnte sich herausstellen, dass auch wir uns irren. Also kann ich nur beten, dass es einen Gott und einen Himmel gibt – oder etwas Besseres.«
    Damals notierte ich den genauen Wortlaut dieses anrührenden Gebets in einem Heft, in dem wir die Aussprüche der Kinder festhielten, und im Laufe der Jahre, die seitdem über mich hinweggegangen sind, ist meine Ehrfurcht vor dem Gebet gewachsen. Seine ungelehrte Anmut und Schlichtheit sind die eines Kindes, doch seine Weisheit und seine Inbrunst gehören allen Epochen an, die gekommen und vergangen sind, seit das Geschlecht der Menschen gelebt, gelechzt, gehofft, gefürchtet und gezweifelt hat.
    Um ein Jahr zurückzugehen – Susy im Alter von sieben Jahren. Mehrere Male sagte die Mutter zu ihr:
    »Na, na, Susy, wegen so kleiner Dinge darfst du nicht weinen.«
    Das gab Susy Stoff zum Nachdenken. Scheinbar ungeheure Katastrophen hatten ihr schon oft das Herz gebrochen – ein kaputtes Spielzeug; ein Picknick, das einem Gewitterregen zum Opfer fiel; eine im Kinderzimmer zahm und zutraulich gewordene Maus, die von der Katze gefangen und getötet wurde – und jetzt diese sonderbare Enthüllung. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund waren es gar keine ungeheuren Katastrophen. Warum? Wie misst man die Größe einer Katastrophe? Welchen Maßstab legt man an? Es muss doch eine Möglichkeit geben, große von kleinen zu unterscheiden; wie lautet das Gesetz dieses Größenverhältnisses? Sie untersuchte das Problem ernsthaft und eingehend. Sie machte sich immer wieder ausführliche Gedanken darüber, zwei oder drei Tage lang – aber es machte sie ratlos – und siescheiterte. Schließlich gab sie auf und wandte sich hilfesuchend an die Mutter.
    »Mama, was sind ›
kleine
Dinge‹?«
    Das schien eine einfache Frage zu sein – zu Beginn. Noch bevor aber die Antwort in Worte gefasst werden konnte, tauchten unvermutete und unvorhergesehene Schwierigkeiten auf. Sie waren fruchtbar und mehrten sich; sie trugen eine weitere Niederlage ein. Die Erklärungsversuche führten zu nichts. Da versuchte Susy, ihrer Mutter aus der Klemme zu helfen – mit einem Exempel, einem Beispiel, einer Illustration. Die Mutter schickte sich an, in die Stadt zu gehen, und eine ihrer Besorgungen war der Kauf einer lange versprochenen Spielzeuguhr für Susy.
    »Wenn du die Uhr vergisst, Mama, wäre das ein kleines Ding?«
    Sie sorgte sich nicht um die Uhr, denn sie wusste, sie würde nicht vergessen. Vielmehr erhoffte sie sich, dass die Antwort das Rätsel enträtseln und ihrem verwirrten kleinen Verstand Ruhe und Frieden bringen würde.
    Natürlich wurde die Hoffnung enttäuscht – aus dem einfachen Grund, weil die Größe eines Unglücks nicht mit dem Maßstab eines Außenstehenden zu messen ist, sondern nur mit dem Maßstab dessen, der unmittelbar davon berührt ist. Die verlorene Krone des Königs ist eine ungeheure Sache für den König, für das Kind dagegen ohne Bedeutung. Das verlorene Spielzeug ist eine große Sache für das Kind, in den Augen des Königs dagegen nichts, was ihm das Herz brechen würde. Ein Urteil wurde gefällt, aber es beruhte auf dem obigen Modell, und von da an durfte Susy ihre Katastrophen mit ihrem eigenen Bandmaß messen.
    An

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