Meine geheime Autobiographie - Textedition
Entsprechend den Regeln und Gebräuchen des Hauses ging Susy zu ihrer Mutter, um ein Bekenntnis abzulegen und über Umfang und Art der fälligen Bestrafung mitzuentscheiden. Da eine Strafe nur einen rationalen Zweck und eine rationale Funktion haben konnte – als Mahnung und um die Missetäterin vor einer ähnlichen Missetat zu bewahren –, galt es als ausgemacht, dass die Kinder so gut wie jeder andere in der Lage waren, eine Strafe zu wählen, die erinnernswert und wirkungsvoll wäre. Susy und ihre Mutter erörterten verschiedene Bestrafungen, doch keine davon schien angemessen. Das Vergehen war ungewöhnlich ernst gewesen und erforderte, dass im Gedächtnis ein Gefahrensignal aufgestellt wurde, das nicht niederbrennen und erlöschen, sondern eine feste Einrichtung bleiben und seine rettende Warnung auf unbestimmte Zeit aussenden würde. Unter den erwogenen Strafen war auch der Entzug derHeuwagenfahrt. Es war spürbar, dass diese Strafe Susy hart treffen würde. Schließlich las die Mutter die gesammelte Liste vor und fragte:
»Welche glaubst du sollte es sein, Susy?«
Susy überlegte, schrak vor ihrer Pflicht zurück und fragte:
»Was meinst du denn, Mama?«
»Nun, Susy, ich würde es lieber dir überlassen.
Du
triffst die Wahl.«
Es kostete Susy Anstrengung und langes tiefes Nachdenken und Abwägen – aber schließlich kam heraus, was jeder, der sie kannte, hätte vorhersagen können –
»Nun, Mama, ich nehme den Heuwagen, denn, weißt du, bei den anderen Sachen werde ich mich vielleicht nicht daran erinnern, es nicht wieder zu tun, aber wenn ich nicht auf dem Heuwagen fahren darf, werde ich mich mühelos daran erinnern.«
In dieser Welt fällt die eigentliche, die schwere, die nachhaltige Strafe nie auf eine andere als die falsche Person. Nicht
ich
hatte Clara attackiert, aber die Erinnerung an die Heuwagenfahrt, die der armen Susy entging, versetzt noch heute – sechsundzwanzig Jahre später –
mir
einen Stich.
Anscheinend war Susy mit einem Mitgefühl für Tiere und mit Einfühlungsvermögen für deren Nöte geboren worden. Daher konnte sie, als sie erst sechs Jahre alt war, einer alten Geschichte eine neue Pointe abgewinnen – eine Pointe, die ältere und vielleicht geistlosere Leute viele Zeitalter hindurch übersehen hatten. Ihre Mutter erzählte ihr die ergreifende Geschichte vom Verkauf Josephs durch seine Brüder, wie diese Josephs Rock mit dem Blut eines geschlachteten Ziegenbocks besudelten und den ganzen Rest. Die Mutter widmete sich der Unmenschlichkeit der Brüder; ihrer Grausamkeit gegen den hilflosen jungen Bruder; der unbrüderlichen Heimtücke, die sie an ihm übten; denn auf diese Weise hoffte sie, dem Kind eine Lehre in Barmherzigkeit und sanftem Mitleid zu erteilen, die ihm im Gedächtnis haftenbleiben würde. Offenbar wurde ihr Wunsch erfüllt, denn Susy traten Tränen in die Augen, und sie war tief bewegt. Dann sagte sie:
»Der arme kleine Ziegenbock.«
Der offene Neid eines Kindes auf die Privilegien und Vorrechte der Großen drückt sich oft in einer leicht schmeichelhaften Aufmerksamkeit ausund ist alles andere als unwillkommen, mitunter aber richtet sich der Neid auf etwas anderes, als es der so Begünstigte erwartet. Als Susy sieben war, saß sie einmal mit großen Augen da, tief versunken in den Anblick einer Besucherin, die sich für einen Ball schön machte. Die Dame war entzückt über diese Huldigung, diese stumme und sachte Bewunderung, und freute sich darüber. Und als ihre Aufhübschungsbemühungen abgeschlossen waren und sie endlich vollkommen und unübertrefflich dastand, gewandet wie Salomo in all seiner Herrlichkeit, hielt sie selbstsicher und erwartungsvoll inne, um aus Susys Mund jenen Tribut zu empfangen, der schon in ihren Augen brannte. Susy stieß einen leisen neidischen Seufzer aus und sagte:
»Ich wünschte,
ich
hätte schiefe Zähne und eine Brille!«
Als Susy siebeneinhalb war, tat sie eines Tages in Gesellschaft etwas, was ihr Kritik und eine Rüge eintrug. Hinterher, als sie mit ihrer Mutter allein war, dachte sie wie gewohnt eine kleine Weile über die Angelegenheit nach. Dann brachte sie eine, wie ich finde – und wie der Geist von Burns finden würde –, recht gute philosophische Verteidigung vor:
»Nun, Mama, weiß du, ich habe mich ja nicht selbst gesehen, also konnte ich auch nicht wissen, wie es gewirkt hat.«
In Familien, wo nahe Freunde und Besucher vor allem literarisch interessierte Menschen sind – Anwälte, Richter,
Weitere Kostenlose Bücher