Meine geheime Autobiographie - Textedition
schöne Seele – der die wunderbare Marjorie vor dem Vergessen bewahrt hat –, in Susys Babyjahren ihr großer Freund war – ihr Verehrer und williger Sklave.
1873, als Susy vierzehn Monate alt war, trafen wir, aus London kommend, in Edinburgh ein. Dorthin waren wir geflohen, um Erholung und Zuflucht zu suchen, nachdem wir ein für uns vollkommen neues Leben kennengelernt hatten – sechs Wochen lang jeden Tag Mittagessen, Teestunden und Abendessen außer Haus. Wir führten keine Empfehlungsschreiben bei uns; wir versteckten uns in Veitchs Familienhotel in der George Street und richteten uns darauf ein, eine behagliche Saison ganz für uns zu haben. Aberzum Glück kam es nicht so. Mrs. Clemens brauchte sofort einen Arzt, und ich ging um die Ecke zur Rutland Street Nummer 23, um zu erkunden, ob der Verfasser von »Rab und seine Freunde« noch praktizierte. So war es. Er kam, und danach waren wir sechs Wochen lang jeden Tag zusammen, entweder bei ihm zu Hause oder in unserem Hotel.
Montag, 5. Februar 1906
Dr. John Brown wird fortgesetzt – Vorfälle in Susy Clemens’ Kindheit –
Schwach in Rechtschreibung etc.
Sein Gesicht war reizend und einnehmend – ein so schönes Gesicht, wie ich kaum je eins gesehen habe. Ruhig, sanft, gütig – das Gesicht eines Heiligen, der mit sich und der Welt im Reinen war und bedächtig den Sonnenschein der Liebe ausstrahlte, der sein Herz erfüllte. Doktor John wurde von jedermann in Schottland geliebt; und ich glaube, dass der Sonnenschein auf seinem unaufhaltsamen Weg nach Süden keine Grenze fand. Das glaube ich, denn als Gebrechlichkeiten Doktor John ein paar Jahre später nötigten, seine Praxis aufzulösen, und sein Verleger Mr. Douglas und andere Freunde es sich zur Aufgabe machten, einen Fonds in Höhe von ein paar tausend Dollar zu schaffen, dessen Erträge dazu dienen sollten, ihn und seine unverheiratete Schwester (die betagt war) zu unterstützen, kam der Fonds nicht nur rasch zustande, sondern
so
rasch, dass die Bücher geschlossen wurden, noch ehe Freunde hundert Meilen südlich der Grenze die Gelegenheit bekommen hatten, etwas beizusteuern. Es erging kein öffentlicher Aufruf. Die Angelegenheit wurde nie in den Zeitungen abgedruckt. Mr. Douglas und die anderen Freunde warben ausschließlich in privaten Briefen um Spenden. Es gingen viele Beschwerden von Leuten zwischen London und Edinburgh ein, denen keine Gelegenheit gegeben worden war, etwas beizusteuern. Diese Art Beschwerde ist etwas so Neues in der Welt – etwas so auffallend Ungewöhnliches, dass ich sie erwähnenswert finde.
Tiere hatte Doktor John sehr gern, besonders Hunde. Niemandem, der das ergreifende, schöne Meisterwerk »Rab und seine Freunde« gelesen hat,braucht man das eigens zu sagen. Nach seinem Tod veröffentlichte sein Sohn Jock ein Büchlein mit Erinnerungen an ihn, das er privat unter den Freunden verteilte; es enthält eine kleine Episode, die die Beziehung zwischen Doktor John und anderen Tieren illustriert. Beigesteuert hatte sie eine Dame aus Edinburgh, die, als sie zwölf Jahre alt war, häufig von Doktor John in seiner Kutsche zur Schule gebracht oder von dort wieder abgeholt worden war. Sie erzählte, wie sie eines Tages ruhig miteinander geplaudert hatten, als er plötzlich mitten im Satz innehielt, neugierig den Kopf aus dem Kutschenfenster steckte – und sich dann mit enttäuschtem Gesichtsausdruck wieder zurücklehnte. Das Mädchen fragte: »Wer ist da? Jemand, den Sie kennen?« Er antwortete: »Nein, ein Hund, den ich
nicht
kenne.«
Er hatte zwei Namen für Susy – »Wee wifie« (kleines Weiblein) und »Megalopis«. Dieser respekteinflößende griechische Titel wurde ihr wegen ihrer großen, großen braunen Augen verliehen. Susy und der Doktor tobten oft miteinander herum. Täglich vergaß er seine Würde und spielte mit dem Kind »Bär«. Ich weiß nicht mehr genau, wer von beiden der Bär war, aber ich glaube, es war das Kind. In einer Ecke des Wohnzimmers, vor der Tür zu Susys Reich, stand ein Sofa, hinter dem sie immer auf der Lauer lag – nein, sie lag nicht, sie stand auf der Lauer; den Scheitel ihres blonden Schopfes konnte man gerade noch erkennen, wenn sie aufrecht stand. Nach den Spielregeln war sie unsichtbar, und dieser halbe Scheitel zählte nicht. Ich glaube, sie muss wohl der Bär gewesen sein, denn ich kann mich an zwei, drei Gelegenheiten erinnern, als sie hinter dem Sofa hervorsprang und den Doktor in Angst und Schrecken versetzte, die sich auch durch
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