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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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dieser Stelle möchte ich ein, zwei Notizen einfügen, die die Zeit betreffen, als Susy siebzehn war. Sie hatte ein Theaterstück nach griechischem Vorbild verfasst, und sie, Clara und Margaret Warner sowie andere junge Gefährten hatten es in unserem Haus in Hartford dem verzauberten Publikum der Freunde vorgespielt. Charles Dudley Warner und sein Bruder George waren anwesend. Es waren nahe Nachbarn und enge Freunde von uns. Sie waren voll des Lobes über die handwerkliche Ausführung des Stücks, und am nächsten Morgen kam George Warner vorbei und unterhielt sich lange mit Susy. Ergebnis war dieses Urteil:
    »Sie ist der interessanteste Mensch, den ich kenne, ob männlich oder weiblich.«
    Die Bemerkung einer Dame – ich glaube, Mrs. Cheney, Verfasserin der Biographie ihres Vaters Rev. Dr. Bushnell:
    »Nach einem meiner Gespräche mit Susy habe ich diese Notiz gemacht: ›Sie weiß alles über das Leben und seinen Sinn. Wenn sie das Leben bis zum Äußersten ausgeschöpft hätte, wüsste sie auch nicht mehr. Ihre Intuitionen, Reflexionen und Analysen scheinen sie alles gelehrt zu haben, was mich meine sechzig Jahre gelehrt haben.‹«
    Die Bemerkung einer anderen Dame; sie spricht von Susys letzten Tagen:
    »In diesen letzten Tagen schwebte sie auf Wolken, und dieses Schweben entsprach ihrem geistigen Elan und der Leidenschaft der intellektuellen Kraft und Tätigkeit, die sie beherrschten.«
    Ich kehre jetzt zu dem Punkt zurück, von dem aus ich diesen Abstecher gemacht habe. Wie bereits angedeutet, neigte Susy von frühester Kindheit dazu, Dinge selbständig zu untersuchen und zu bedenken. Dazu war sie nicht angehalten worden; es entsprach ihrer inneren Veranlagung. In Fragen, die mit gerechter oder ungerechter Behandlung zu tun hatten, prüfte sie geduldig die Details und gelangte jedes Mal zu einer logisch richtigen Schlussfolgerung. In München, als sie sechs Jahre alt war, wurde sie von einem wiederkehrenden Traum gequält, in dem ein wilder Bär vorkam. Aus diesem Traum erwachte sie jedes Mal voller Angst und weinte. Sie stellte sich die Aufgabe, diesen Traum zu analysieren. Seine Veranlassung? Seinen Sinn? Seinen Ursprung? Nein – seinen moralischen Aspekt. Das Urteil, zu dem sie nach unvoreingenommener und eindringlicher Erkundung gelangte, setzte ihn dem Vorwurf aus, einseitig und ungerecht konstruiert zu sein: denn (wie sie es ausdrückte), war
sie
»nie diejenige, die fraß, sondern immer die, die gefressen wurde«.
    Susy stützte ihr gesundes Urteil in Fragen der Moral mit entsprechendem Verhalten – sogar dann, wenn sie Opfer bringen musste. Als sie sechs war und ihre Schwester Clara vier, waren beide unerfreulich streitsüchtig. Um diese Gewohnheit zu brechen, versuchte man es mit Strafen – sie schlugen fehl. Hierauf versuchte man es mit Belohnungen. Ein Tag ohne Streit bescherteihnen Süßigkeiten. Die Kinder waren ihre eigenen Zeugen – jedes sagte für oder gegen sich aus. Einmal nahm Susy die Süßigkeit an, zögerte und gab sie dann mit dem Hinweis zurück, sie habe keinen Anspruch darauf. Clara hingegen behielt ihre Süßigkeit – eine widersprüchliche Beweislage; die eine Zeugin
für
einen Streit, die andere dagegen. Aber die bessere Zeugin der beiden hatte eine bejahende Antwort gegeben, somit war der Streit bewiesen, und keiner der beiden Parteien standen Süßigkeiten zu. Clara schien nichts zu ihrer Verteidigung vorbringen zu können – und doch wurde Clara verteidigt, und zwar von Susy; und so ging sie straffrei aus. Susy sagte: »Ich weiß nicht, ob sie sich im Unrecht gefühlt hat, aber ich habe mich nicht im Recht gefühlt.«
    Es war ein redlicher und ehrenvoller Blick auf den Fall und für ein Kind von sechs Jahren eine besonders scharfsinnige Analyse. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, Clara zu überführen, außer sie abermals in den Zeugenstand zu rufen und ihre Aussage zu überprüfen. Es bestanden Zweifel an der Gerechtigkeit dieses Verfahrens, da ihre frühere Aussage bereits akzeptiert und zu dem Zeitpunkt nicht in Frage gestellt worden war. Die Zweifel wurden geprüft und erwogen – dann wurden sie ihr zugutegehalten, und sie wurde freigesprochen; was auch gut war, denn inzwischen hatte sie die Süßigkeit längst aufgegessen.
    Immer wenn ich an Susy denke, denke ich an Marjorie Fleming. Es gab nur eine Marjorie Fleming. Eine andere kann es nie geben. Zweifellos denke ich vor allem deshalb an Marjorie, wenn ich an Susy denke, weil Dr. John Brown, diese edle und

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