Meine geheime Autobiographie - Textedition
fernen Westen nach Hartford zurück und traf eines Abends rechtzeitig zum Abendessen zu Hause ein. Ich hoffte, am Hickoryfeuer in der Bibliothek einen unbeschwerten und erholsamen Abend mit der Familie zu verbringen, wurde jedoch aufgefordert, mich unverzüglich zu George Warners Haus zu begeben, das in hundertfünfzig Metern Entfernung unserem Grundstück gegenüber lag. Das war eine herbe Enttäuschung, und ich versuchte abzusagen, aber ohne Erfolg. Ich konnte nicht einmal herausfinden, weshalb ich diesen kostbaren Abend für einen Besuch im Hause eines Freundes vergeuden musste, wo doch unser eigenes Haus so viele und größere Vorzüge bot. Ich stand vor einem Rätsel, konnte der Sache aber nicht auf den Grund kommen. So stapften wir durch den Schnee hinüber, und ich stellte fest, dass der Salon der Warners übervoll von Gästen war, die alle schon Platz genommen hatten. In der vordersten Reihe war ein Sitz für mich reserviert – vor einem Vorhang. Gleich darauf öffnete sich dieser, und zünftig kostümiert stand Warners Töchterchen Margaret, in Tom Cantys Lumpen gehüllt, vor mirund hinter einem Zwischengeländer Susy Clemens, in die Seide und das Satin des Prinzen gekleidet. Es folgte, gut und temperamentvoll dargeboten, der Rest der ersten Begegnung zwischen Prinz und Bettelknabe. Es war eine reizende und für mich bewegende Überraschung. Andere Episoden aus dem Roman folgten, und selten in meinem Leben habe ich einen Abend so genossen wie diesen. Die hübsche Überraschung war das Werk meiner Frau. Sie hatte die Szenen aus dem Buch zusammengestellt, die sechs oder acht jungen Schauspieler in ihre Rollen eingewiesen und auch die Kostüme entworfen und genäht.
Danach fügte ich eine Rolle für mich selbst (Miles Hendon), eine für Katy und eine für George hinzu. Ich glaube, George habe ich bislang noch nicht erwähnt. Er war Farbiger – Liebling der Kinder und eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Damals war er schon seit mehreren Jahren Mitglied der Familie. Er war in Maryland als Sklave zur Welt gekommen und wurde als junger Mann durch die Emanzipations-Proklamation befreit. Im Krieg war er Leibdiener von General Devens gewesen und danach in den Norden gegangen, wo er sich seinen Lebensunterhalt acht oder zehn Jahre mit Gelegenheitsarbeiten verdient hatte. Einmal kam er, ein Wildfremder, in unser Haus, um die Fenster zu putzen – und blieb achtzehn Jahre lang. Mrs. Clemens konnte einen Diener immer aufgrund seines Aussehens einschätzen – und zwar besser, als sie oder sonst jemand ihn aufgrund seiner Empfehlungsschreiben einschätzen könnte.
Wir führten
Der Prinz und der Bettelknabe
etliche Male in unserem Haus auf, vor einem Publikum von vierundachtzig Personen, mehr passten nicht hinein, und unterhielten uns dabei großartig. So wie
wir
das Stück spielten, hatte es gegenüber der Fassung, wie sie auf öffentlichen Bühnen in England und Amerika präsentiert wurde, mehrere Vorzüge, da wir den Prinzen und den Bettelknaben immer gleichzeitig an Deck hatten, während sie auf öffentlichen Bühnen immer als Doppelrolle besetzt wurden – eine kostensparende, aber unkluge Abweichung vom Buch, wurde doch die Eliminierung der wirkungsvollsten und aufschlussreichsten Episoden notwendig. Aus der Krönungsszene machten wir etwas ergreifend Schönes, indem der Prinz und der Bettelknabe gleichzeitig auf der Bühne standen. Clara spielte die Rolleder kleinen Lady Jane Grey mit elektrisierender Energie. Twichells Kleinster, inzwischen ein ernster und ehrwürdiger Geistlicher, war ein Page. Obwohl er so winzig war, dass ihn die Leute auf den hinteren Sitzen nicht ohne Opernglas sehen konnten, hielt er Lady Janes Schleppe sehr gut hoch. Jean war erst etwas über drei und deshalb noch zu jung, um einen Part zu übernehmen, inszenierte jedoch das ganze Stück jeden Tag eigenständig und spielte sämtliche Rollen selbst. Für ein Einpersonenstück war es gar nicht schlecht. Es war sogar sehr gut – sehr unterhaltsam. Denn sie war von äußerstem Ernst, außerdem benutzte sie ein Englisch, das außer ihr niemand so wirkungsvoll handhaben konnte.
Unsere Kinder und die Nachbarskinder spielten gut; mühelos, sicher, natürlich und beschwingt. Wie kam es nur, dass sie das konnten? Es lag daran, dass sie von frühester Kindheit an geübt hatten. In unserem Haus wuchsen sie gewissermaßen scharadenspielend auf. Wir trafen nie irgendwelche Vorbereitungen. Wir wählten ein Wort, flüsterten den kleinen Schauspielern
Weitere Kostenlose Bücher