Meine geheime Autobiographie - Textedition
Wörter »Gute Rechtschreibung« eingraviert, auf der anderen das Wort »Liebenswürdig«. Die beiden Preisträger hängten sie sich an einer Kette um den Hals – und wurden von der ganzen Schule beneidet. Es gab keinen einzigen Schüler, der nicht ein Bein dafür gegeben hätte, eine Woche lang eine der beiden Medaillen zu tragen, doch außer John Robards und mir kam kein Schüler je zum Zuge. John Robards war ewig und unverwüstlich liebenswürdig. Ich könnte sogar sagen: teuflisch liebenswürdig; höllisch liebenswürdig; aufreizend liebenswürdig. Das war der Eindruck, den wir von dieser seiner Eigenschaft hatten. Er also trug stets die Liebenswürdigkeitsmedaille. Ich trug stets die andere Medaille. Das Wort »stets« ist ein klein wenig übertrieben. Mehrere Male haben wir die Medaillen verloren. Das lag daran, dass es so monoton wurde. Wir brauchten eine Abwechslung – deshalb tauschten wir mehrere Male. Für John Robards war es eine Genugtuung, ein guter Rechtschreiber zu
scheinen
– was er nicht war. Und für mich war es eine Genugtuung, ausnahmsweise einmal liebenswürdig zu wirken. Aber natürlich waren diese Veränderungen nicht von Dauer – denn der eine oder andere Schulkamerad merkte sogleich, was vor sich ging, und der Betreffende wäre kein Mensch gewesen, wenn er Zeit vergeudet hätte, um den Verrat zu melden. Natürlich nahm uns der Lehrer die Medaillen augenblicklich ab – und vor Freitagabend hatten wir sie jedes Mal wieder. Hatten wir die Medaillen an einem Montagmorgen verloren, stand Johns Liebenswürdigkeit, wenn am Freitagnachmittag der Lehrer kam, um die Wochenrechnung zu begleichen, wieder ganz oben auf der Liste. Am Freitagnachmittag endete der Unterricht stets mit einem Buchstabiertest. Da ich in Ungnade gefallenwar, musste ich notgedrungen am unteren Ende meiner Division von Buchstabierern beginnen, aber jedes Mal metzelte ich gleich beide Divisionen nieder, und wenn der Feldzug beendet war, stand ich allein da, die Medaille um den Hals. Ein einziges Mal, ganz am Ende eines dieser Scharmützel, hatte ich mich bei einem Wort vertan und büßte die Medaille ein. Ich hatte das erste
r
in »Februar« ausgelassen – was geschehen war, um einem Liebchen einen Gefallen zu tun. Meine Leidenschaft damals war so groß, dass ich das ganze Alphabet ausgelassen hätte, wenn es in dem Wort enthalten gewesen wäre.
Wie gesagt, vor guter Rechtschreibung hatte ich noch nie sonderlich Respekt. So empfinde ich auch heute noch. Bevor das Rechtschreibbuch mit seinen willkürlichen Schreibweisen herauskam, offenbarten die Menschen durch ihre Rechtschreibung unbewusst Nuancen ihres Charakters und fügten dem Geschriebenen auch erhellende Nuancen des Ausdrucks hinzu, und so ist das Rechtschreibbuch möglicherweise von zweifelhaftem Wert für uns gewesen.
Susy begann die Biographie 1885, als ich im fünfzigsten Lebensjahr stand. Sie fängt so an:
Wir sind eine sehr glückliche Familie. Wir bestehen aus Papa, Mama, Jean, Clara und mir. Ich schreibe über Papa, und ich werde keine Schwierigkeiten haben, zu wissen, was ich über ihn sagen soll, weil er eine
sehr
bemerkenswerte Persönlichkeit ist.
Aber warten wir einen Moment – ich werde gleich auf Susy zurückkommen.
Was sklavische Nachahmung anbelangt, ist der Mensch dem Affen immer überlegen. Dem Durchschnittsmenschen mangelt es an einer eigenständigen Meinung. Er ist nicht daran interessiert, sich durch Studium und Reflexion eine eigene Meinung zu bilden, sondern allein darauf bedacht, die Meinung seines Nachbarn herauszufinden und diese sklavisch zu übernehmen. Schon vor einer Generation stellte ich fest, dass die jüngste Besprechung eines Buchs mit ziemlicher Sicherheit nur eine Widerspiegelung der
frühesten
Besprechung ist; was immer der erste Rezensent an dem Buch zu loben oder zu kritisieren findet, wird im Bericht des letzten Rezensenten wiederholt, ohnedass etwas Neues hinzugefügt würde. Daher traf ich mehr als einmal die Vorsichtsmaßnahme, ein Buch von mir in Manuskriptform an Mr. Howells zu schicken, der damals Herausgeber des
Atlantic Monthly
war, damit er in Muße eine Besprechung schreiben könnte. Ich wusste, dass er die Wahrheit über das Buch sagen würde – ich wusste auch, dass er mehr Stärken als Schwächen darin entdecken würde, denn ich war mir sicher, dass dies die Beschaffenheit des Buches war. Erst wenn Mr. Howells’ Rezension erschienen war, ließ ich zu, dass Rezensionsexemplare an die Presse
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