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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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die Wortteile zu; dann zogen wir uns in die Diele zurück, wo für den Abend alle möglichen Kostüme bereitgelegt waren. Binnen drei Minuten kleideten wir die Spieler ein, und jede Abteilung marschierte in die Bibliothek, führte ihre Silbe vor und zog sich dann wieder zurück, die Väter und Mütter mussten die betreffende Silbe erraten, falls sie es konnten. Manchmal konnten sie es.
    Will Gillette, heute weltberühmter Schauspieler und Bühnendichter, lernte einen Teil seines Handwerks, indem er bei unseren Scharaden mitwirkte. Die Kleinen, Susy und Clara, dachten sich in ihren frühesten Jahren selbst Scharaden aus und stellten sie zu meiner und ihrer Mutter Unterhaltung pantomimisch dar. Sie hatten einen Vorzug – nur ein hoher Intellekt konnte sie erraten. Bei einer Scharade ist Undeutlichkeit eine großartige Sache. Einmal dachten sich die Winzlinge eine Scharade aus, die in dieser Hinsicht ein Meisterstück war. Sie kamen herein und spielten die erste Silbe, eine Konversation, bei der mit suggestiver Häufigkeit das Wort
red
vorkam. Dann zogen sie sich zurück – und als sie zurückkehrten, führten sie einen zornigen Streit fort, den sie draußen begonnen hatten und in dem immer wieder Wörter wie
just, fair, unfair, unjust
und so weiter vorkamen; aber uns fiel auf, dass das Wort
just
am häufigsten fiel – und so schrieben wir es zusammenmit dem Wort
red
auf und diskutierten die Kombinationsmöglichkeiten, während die Kinder hinausgingen, um sich neu zu kostümieren. Auf diese Weise hatten wir
red
und
just
. Bald tauchten sie wieder auf und begannen einen sehr modischen Morgenbesuch, bei dem sich die eine bei der anderen nach einer Dame erkundigte, deren Name hartnäckig unterdrückt wurde und von der stets als
her
gesprochen wurde, selbst wenn die Grammatik diese Form des Pronomens nicht erlaubte. Die Kinder zogen sich zurück. Wir machten eine Bestandsaufnahme, und soweit wir sehen konnten, hatten wir jetzt drei Silben,
red, just
und
her
. Aber das war auch schon alles. Die Kombination schien das künftige vollständige Wort nicht zu erhellen. Die Kinder kamen wieder, bückten sich und begannen zu plaudern und zu streiten und zu zanken und an einer Registrierkasse herumzufriemeln und zu -tasten!
Register
(
red - just - her
)! Mit Ausnahme von mir war die Familie noch nie gut im Buchstabieren.
    In den Tagen vor und nach
Der Prinz und der Bettelknabe
– besonders danach – dachten sich Susy und ihre unmittelbare Nachbarin Margaret Warner oft Tragödien aus, die sie mit Hilfe der kleinen Jean im Schulzimmer aufführten – hinter geschlossen Türen – Eintritt verboten. Die Hauptfiguren waren stets zwei Königinnen, die in permanentem Streit lagen – möglichst in einem Streit historischer Natur, auf jeden Fall aber in einem Streit, selbst wenn er der Einbildungskraft entsprang. Jean hatte immer eine Aufgabe – eine einzige. Sie saß an einem kleinen, etwa dreißig Zentimeter hohen Tisch und stellte Todesurteile aus, die die Königinnen unterzeichnen mussten. Im Laufe der Zeit nutzten sie Elisabeth und Maria Stuart vollständig ab – ebenso alle Kleider von Mrs. Clemens, die sie ergattern konnten –, denn nichts entzückte diese Monarchinnen so sehr wie ein bis zwei Meter lange Kleider, die sie auf dem Boden hinter sich herziehen konnten. Mehr als einmal spionierten Mrs. Clemens und ich ihnen nach, was heimtückisch war – aber ich glaube nicht, dass wir uns ernstlich daran stießen. Es war großartig, die Königinnen auf und ab schreiten zu sehen und zu hören, wie sie einander mit bluttriefenden Wörtern von drei oder vier Silben Länge Vorwürfe machten; und es war hübsch, mit anzusehen, wie gelassen Jean bei alldem war. Vertrautheit mit täglichem Tod und Gemetzel hatte sie gegen Verbrechen undLeiden aller Schattierungen abgehärtet, und es gelang den beiden nicht mehr, ihren Puls auch nur einen Takt schneller schlagen zu lassen. Manchmal, wenn es zwischen einem Todesurteil und dem nächsten eine lange Pause gab, legte sie sogar den Kopf auf den Tisch und schlummerte ein. Dann war es ein kurioses Schauspiel zwischen unschuldigem Ruhen und blutroter aufbrausender Tragödie.
    Vor zwei oder drei Wochen, als ich dasaß und mich mit der göttlichen Sarah – Sarah der Hochberühmten, der Unnahbaren – unterhielt, mein Englisch gegen ihr Französisch eintauschte und keiner von uns beiden einen Lohn daraus bezog, hätte sie, wenn sie genau hingesehen hätte, in meinen Augen ein starkes, aber

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