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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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versonnenes Interesse entdecken können, denn während ich sie sah, sah ich zugleich eine andere Sarah Bernhardt von vor vielen Jahren – Susy Clemens. Einmal hatte Susy die Bernhardt spielen sehen. Und danach erging sie sich gern in leidenschaftlichen Imitationen der tragischen Rollen ihrer großen Heldin. Und zwar auffallend gut.
    Mittwoch, 7. Februar 1906
    Susy Clemens’ Biographie ihres Vaters – Mr. Clemens’ Meinung über Kritiker usw.
    Als Susy dreizehn war, ein schlankes kleines Fräulein mit geflochtenen Zöpfen von kupferbraunem Haar, die ihr über den Rücken fielen, und aufgrund der vielen Studien, Gesundheitsübungen und Freizeitbeschäftigungen, denen sie sich widmen musste, womöglich die emsigste Biene im Bienenstaat des Haushalts, fügte sie ihren Mühen aus eigenem Antrieb und aus Liebe heimlich eine weitere Aufgabe hinzu – die Abfassung meiner Biographie. Sie verrichtete diese Arbeit nachts in ihrem Schlafzimmer und versteckte ihre Aufzeichnungen. Nach einer Weile entdeckte die Mutter sie, nahm sie an sich und zeigte sie mir; danach sagte sie Susy, was sie getan hatte und wie erfreut ich war und wie stolz. Ich erinnere mich an diese Zeit mit tiefer Freude. Ich hatte auch früher schon Komplimente erhalten, aber keins hatte mich so berührt; in meinen Augen kam ihm keins an Wert gleich. Diesen Platz hat es seitdem immer eingenommen. Von keiner Quelle habe ich Komplimente,Lob oder Anerkennung erfahren, die mir so wertvoll waren oder sind wie diese Biographie. Wenn ich sie
heute
, nach all den vielen Jahren, wiederlese, enthält sie noch immer eine königliche Botschaft für mich und beschert mir dieselbe liebe Überraschung wie damals – mit dem zusätzlichen Pathos des Gedankens, dass die fleißige und hastige Hand, die sie entworfen und hingekritzelt hat, die meine nicht mehr berühren wird – und ich fühle mich, wie sich Niedriggeborene fühlen müssen, wenn ihr Blick auf das unverhoffte Edikt fällt, das sie in den Adelsstand erhebt.
    Als ich gestern in einem Stapel alter Notizbücher stöberte, die ich seit Jahren nicht mehr angesehen hatte, stieß ich auf einen Hinweis bezüglich dieser Biographie. Offenbar hatte ich in jenen längst vergangenen Tagen beim Frühstück und beim Abendessen mehrere Male für sie posiert. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, dass ich es
tat
– und auch daran, dass Susy es bemerkte. Ich kann mich daran erinnern, dass ich mich eines Morgens am Frühstückstisch ziemlich aufspielte, um irgendeine Schlauheit von mir zu geben, und Susy kurz danach ihrer Mutter gegenüber die vertrauliche Bemerkung machte, Papa habe es für die Biographie getan.
    Ich kann mich nicht überwinden, eine Zeile oder auch nur ein Wort in Susys Skizze über mich zu ändern, sondern werde hin und wieder Auszüge daraus einfügen, genau so, wie sie in reizender Naivität ihrem ehrlichen Herzen, dem wunderbaren Herzen eines Kindes, entsprungen sind. Was aus dieser Quelle zutage tritt, hat einen ganz eigenen Zauber und Liebreiz, der mühelos alle anerkannten Gesetze der Literatur sprengen könnte und doch Literatur wäre und freundlich aufgenommen werden sollte. Bevor ich fertig bin, werde ich die ganze kleine Biographie abgedruckt haben – jedes Wort, jeden Satz.
    Die Rechtschreibung ist häufig hoffnungslos daneben, aber es war Susys Rechtschreibung, also soll es dabei bleiben. Ich liebe sie und kann sie nicht entweihen. Für mich ist sie Gold. Sie zu korrigieren hieße, sie zu verschlechtern, nicht sie zu verfeinern. Es würde sie verderben. Es würde ihr alle Freiheit und Biegsamkeit nehmen und sie steif und förmlich machen. Selbst wenn sie ganz extravagant ist, bin ich nicht schockiert. Es ist Susys Rechtschreibung, sie hat ihr Bestes gegeben – und in meinen Augen könnte nichts es besser machen.
    Sprachen lernte sie mühelos; Geschichte lernte sie mühelos; Musik lernte sie mühelos; alles lernte sie mühelos, schnell und gründlich – bis auf Rechtschreibung. Und selbst die lernte sie nach einer Weile. Aber es hätte mich nicht sehr betrübt, wenn sie damit keinen Erfolg gehabt hätte – denn obwohl gute Rechtschreibung meine einzige Fertigkeit war, hatte ich nie große Achtung davor. Als ich vor sechzig Jahren ein Schuljunge war, gab es in unserer Schule zwei Preise. Der eine war für gute Rechtschreibung, der andere für Liebenswürdigkeit. Die Preise waren dünne, glatte Silbermedaillen etwa von der Größe eines Dollars. Auf der einen waren in Kursivschrift die

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