Meine geheime Autobiographie - Textedition
alte sichere Grenze hinaus. Wenn er mit meiner Garderobe fertig war, hatte er alle Freundlichkeiten, alle Artigkeiten und alle Höflichkeiten geäußert, die er riskieren konnte. Dann kam er wieder auf Nasby zurück.
Gestern fand ich in der Einstecktasche eines meiner alten Notizbücher diesen Zeitungsausschnitt. Er ist neununddreißig Jahre alt, und Papier wie Druckerschwärze sind gelb von der Bitterkeit, die ich damals empfand, als ich ihn ausschnitt, um ihn aufzubewahren und darüber zu brüten und zu trauern. Ich will ihn hier abschreiben:
Eine Korrespondentin der
Philadelphia Press,
die über einen von Schuyler Colfax’ Empfängen schreibt, sagt von unserem Washingtoner Korrespondenten: »Mark Twain, der feine Humorist, war zugegen; ein rechter Löwe, wie er es zu sein verdient. Mark ist Junggeselle und hat tadellosen Geschmack, seine schneeweiße Weste deutet auf endlosen Streit mit Washingtoner Waschfrauen hin; aber Marks Heldentum steht ein für alle Mal fest, denn solche Reinheit und Glätte wurden nie zuvor gesehen. Seine lavendelfarbenen Handschuhe könnten aus einem türkischen Harem entwendet sein, so zierlich waren sie; aber wahrscheinlicher – alles andere war wahrscheinlicher als das. In Gestalt und Gesichtszügen weist er einige Ähnlichkeit mit dem unsterblichen Nasby auf; während Petroleum jedoch durch und durch brünett ist, ist Twains Haar golden, bernsteinfarben, von schmelzendem Blond.
Lassen Sie uns jetzt zu Susys Biographie zurückkehren und die Meinung eines unvoreingenommenen Menschen einholen.
Aus Susys Biographie
Papas Erscheinung ist oft beschrieben worden, aber sehr unzutreffend. Er hat schönes graues Haar, kein bisschen zu dick und kein bisschen zu dünn, sondern genau richtig; eine römische Nase, die die Schönheit seiner Gesichtszüge nochunterstreicht; freundliche blaue Augen und einen kleinen Schnurbart. Er hat einen wunderschön geformten Kopf und ein schönes Profil. Er hat eine sehr gute Figur – kurzum, er ist ein auserordentlich gutaussehender Mann. Alle seine Gesichtszüge sind vollkommen, auser dass er keine auserordentlichen Zähne hat. Sein Teint ist sehr hell, und er trägt keinen Vollbart. Er ist ein sehr guter Mensch und ein sehr komischer. Er ist
sehr
aufbrausend, aber in dieser Familie sind wir das alle. Er ist der liebenswürdigste Mann, den ich je gesehen habe oder zu sehen hoffe – und oh, so zerstreut. Er erzählt ganz entzückende Geschichten. Clara und ich haben immer jede auf einer Armlehne seines Sessels gesessen und ihm zugehört, wenn er uns Geschichten über die Bilder an den Wänden erzählte.
An die Tage des Geschichtenerzählens kann ich mich lebhaft erinnern. Sie waren ein schwieriges und anspruchsvolles Publikum – die kleinen Geschöpfe.
Donnerstag, 8. Februar 1906
Susy Clemens’ Biographie wird fortgesetzt – Phantast für die Kinder – Der Vorfall
mit der löffelförmigen Auffahrt – Die Alarmanlage tut voll ihre Pflicht
In unserem Haus in Hartford stießen auf einer Seite der Bibliothek die Bücherregale an den Kaminsims – nein, zu beiden Seiten des Kaminsimses gab es Regale. Auf diesen Regalen und auf dem Kaminsims standen verschiedene Schmuckstücke. An einem Ende der Prozession befand sich das gerahmte Ölgemälde eines Katzenkopfes, am anderen der lebensgroße Kopf eines schönen jungen Mädchens – genannt Emmeline, weil sie in etwa so aussah, wie der Name klingt –, ein impressionistisches Aquarell. Zwischen dem einen Bild und dem anderen gab es zwölf oder fünfzehn der bereits erwähnten Nippfiguren, außerdem ein Ölgemälde von Elihu Vedder,
Die junge
Medusa
. Dann und wann baten mich die Kinder, eine Phantasieerzählung zu erfinden – immer aus dem Stegreif, nicht eine Sekunde Vorbereitungszeit war gestattet –, und in diese Phantasieerzählung musste ich sämtliche Nippfiguren und die drei Bilder einbeziehen. Mit der Katze musste ich beginnen und mit Emmeline aufhören. Von einem Ende bis zum anderen war mir nieeine erfrischende Abwechslung vergönnt. Es war nicht zulässig, eine Figur außerhalb der Reihe in die Geschichte einzuführen.
Nie war den Nippfiguren ein friedlicher Tag, ein Ruhetag, ein geruhsamer Sabbat beschieden. In ihrem Leben gab es keinen Sabbat, in ihrem Leben gab es keinen Frieden; sie kannten kein anderes Dasein als eine einförmige Karriere der Gewalt und des Blutvergießens. Im Laufe der Zeit zeigten die Figuren und die Bilder Abnutzungserscheinungen. Das kam daher,
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