Meine geheime Autobiographie - Textedition
Fehlkalkulation. Als sie ihr Schweigen endlich brach, fragte sie gar nichts mehr, sondern verpasste mir mit ihrem Fingerhut eine solche Kopfnuss, dass ich sie bis in die Hacken spürte. Da platzte ich mit meiner gekränkten Unschuld heraus in der Erwartung, sie zu beschämen, weil sie den Falschen bestraft hatte. Ich erwartete, dass sie etwas Reumütiges und Mitleidvolles tat. Ich sagte, ich sei’s nicht, Henry sei es gewesen. Aber esgab keinen Aufruhr, emotionslos sagte sie: »Schon gut. Macht nichts. Du verdienst es für etwas, was du getan hast, wovon ich nichts weiß; und wenn du nichts getan hast, dann verdienst du es für etwas, was du tun wirst, wovon ich nichts hören werde.«
Außen am Haus war eine Treppe, die zum hinteren Teil des Obergeschosses führte. Eines Tages wurde Henry auf eine Besorgung geschickt und nahm einen Blecheimer mit. Ich wusste, dass er die Treppe hinaufsteigen würde, und so ging ich nach oben, verriegelte von innen die Tür, ging wieder hinunter in den Garten, der frisch umgegraben und reich an erstklassigen festen schwarzen Erdklumpen war. Ich sammelte einen großzügigen Vorrat an und lauerte ihm auf. Ich wartete, bis er die Treppe hinaufgeklettert und fast oben angekommen war und nicht mehr entfliehen konnte. Dann bombardierte ich ihn mit Erdklumpen, die er, so gut er konnte, mit seinem Blecheimer abzuwehren versuchte, doch ohne großen Erfolg, denn ich war ein guter Schütze. Die gegen die Verkleidung prasselnden Erdklumpen riefen meine Mutter auf den Plan, die sehen wollte, was vor sich ging, und ich versuchte ihr zu erklären, ich wolle Henry nur ein wenig amüsieren. Beide waren augenblicklich hinter mir her, aber ich kannte den Weg über den hohen Bretterzaun und konnte fürs Erste entkommen. Als ich mich nach ein, zwei Stunden zurückwagte, war niemand da, und ich glaubte schon, der Vorfall sei beigelegt. Aber das war er nicht. Jetzt lauerte Henry
mir
auf. Ungewöhnlich zielsicher warf er mir einen Stein an die Schläfe, auf der eine Beule, groß wie das Matterhorn, anschwoll. Mitleidsuchend trug ich diese schnurstracks zu meiner Mutter, aber die war nicht sehr gerührt. Offenbar war sie der Ansicht, dass Vorfälle dieser Art, wenn ich nur genügend davon abbekäme, mich irgendwann läutern würden. Somit war die ganze Angelegenheit nur eine Erziehungsmaßnahme. Ich hatte eine eher strengere Auffassung davon gehabt.
Es war nicht recht, der Katze den Schmerztöter zu verabreichen; inzwischen leuchtet es mir ein. Heute würde ich es nicht noch einmal tun. Aber zu der Zeit von
Tom Sawyer
war es mir eine große und aufrichtige Genugtuung, zuzusehen, wie sich Peter unter ihrer Wirkung aufführte – und wenn Taten wirklich lauter
sprechen
als Worte, hatte er genauso viel Interesse daran wie ich. Es war eine höchst abscheuliche Medizin, Perry Davis’ Schmerztöter.Mr. Paveys Neger, ein Mensch von gesunder Urteilskraft und beträchtlicher Neugier, wollte unbedingt davon probieren, und ich ließ ihn. Er war der Meinung, dass sie aus Höllenfeuer gemacht sei.
Es war die Zeit der Cholera im Jahre 49. Die Menschen am Mississippi waren vor Angst wie gelähmt. Wer konnte, nahm die Beine in die Hand. Und auf der Flucht starben viele vor Schreck. Auf einen, der an der Cholera starb, kamen drei, die vor Schreck starben. Wer nicht fliehen konnte, schluckte vorbeugende Mittel, und für mich wählte meine Mutter Perry Davis’ Schmerztöter. Um sich selbst machte sie sich keine Sorgen. Sie mied diese Art Präventivmittel. Ich aber musste ihr versprechen, täglich einen Teelöffel Schmerztöter einzunehmen. Anfangs hatte ich die Absicht, mein Versprechen zu halten, zu der Zeit wusste ich ja noch nicht so viel über Perry Davis’ Schmerztöter wie nach meinem ersten Experiment. Henrys Flasche brauchte sie nicht im Auge zu behalten – Henry konnte sie vertrauen. Das Etikett meiner Flasche dagegen markierte sie jeden Tag mit dem Bleistift und prüfte nach, ob der Teelöffel entnommen worden war. Der Fußboden war nicht mit Teppich ausgelegt. Er hatte Ritzen, und diesen Ritzen flößte ich den Schmerztöter ein und erzielte ausgezeichnete Ergebnisse – dort unten trat keine Cholera auf.
Bei einer dieser Gelegenheiten kam schwanzwedelnd der freundliche Kater herein und bettelte um etwas Schmerztöter – den er auch bekam –, woraufhin er einen hysterischen Anfall erlitt, der damit endete, dass er mit sämtlichen Möbeln im Zimmer kollidierte und schließlich aus dem offenen Fenster sprang
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