Meine geheime Autobiographie - Textedition
die ganzen vier Stunden hindurch jämmerlich schläfrig und elend. Ich sehe noch vor mir, wie ich in der schwermütigen Stille der glühend heißen Nacht am Krankenbettsaß und dem eingefallenen bleichen Gesicht des Patienten mit einem Palmwedel mechanisch Luft zufächelte; ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Hand mit dem Fächer erlahmte, wie ich einnickte, vorübergehend das Bewusstsein verlor und mit einem Ruck hochschreckte. Ich kann mich noch an die quälenden Bemühungen erinnern, mich wach zu halten; kann mich an das träge Verrinnen der Zeit erinnern und daran, wie die Zeiger der Standuhr sich nicht zu bewegen, sondern stillzustehen schienen. Während der langen Nachtwache gab es nichts anderes zu tun, als sachte mit dem Fächer zu wedeln – und es war ebendiese sanfte, monotone Bewegung, die mich einschläferte. Mr. Langdon hatte Magenkrebs, eine unheilbare Krankheit. Es gab keine Medikamente. Es war ein Fall langsamen und stetigen Zugrundegehens. In großen Abständen wurde dem Patienten Champagnerschaum verabreicht, aber soweit ich mich erinnern kann, keine andere Nahrung.
Jeden Morgen eine volle Stunde vor Tagesanbruch stimmte ein Vogel einer mir unbekannten Gattung im Gebüsch unter dem Fenster ein trauriges, ermüdendes und eintöniges Piepsen an. Er hatte keine Begleiter; er führte diese Folter ganz allein durch und fügte sie meinen Lasten hinzu. Nie hielt er auch nur einen Augenblick inne. Ich habe nur weniges durchgemacht, was unerträglicher war als die Klagelaute dieses Vogels. Während der ganzen einförmigen Belagerung begann ich schon lange vor dem ersten Morgengrauen, es sehnsüchtig zu erwarten; und ich glaube, ich hielt Ausschau wie ein Doppelgänger des einsamen Schiffbrüchigen auf seiner Meeresinsel, der den Horizont nach Schiffen und Rettung absucht. Wenn das erste schwache Grau durch die Jalousien fiel, fühlte ich mich zweifellos so wie der Schiffbrüchige, wenn sich am Himmel die schwachen Umrisse des erhofften Schiffes abzeichnen.
Ich war gesund und kräftig, aber ich war ein Mann und mit dem Gebrechen eines Mannes geschlagen – mangelnder Belastbarkeit. Die Frauen waren weder gesund noch kräftig, aber keine der beiden traf ich, wenn ich auf Wache ging, jemals schläfrig oder unaufmerksam an; dabei teilten sie sich, wie gesagt, siebzehn von vierundzwanzig Stunden der Krankenwache. Es war etwas Wunderbares. Es erfüllte mich mit Staunen und Bewunderung; wegen meiner stumpfen Untauglichkeit aber auch mit Scham. Natürlichflehten die Ärzte die Töchter an, die Einstellung professioneller Pflegerinnen zu gestatten, aber sie willigten nicht ein. Der bloße Vorschlag kränkte sie, so dass das Thema bald fallengelassen und nie wieder erwähnt wurde.
Ihr Leben lang war Mrs. Clemens physisch schwach, ihr Geist dagegen nie. Aus ihm bezog sie ihre ganze Kraft, und er war genauso wirkungsvoll, wie körperliche Stärke es gewesen wäre. Als unsere Kinder klein waren, pflegte sie sie in den langen Nächten der Krankheit, so wie sie ihren Vater gepflegt hatte. Ich habe sie gesehen, wie sie eine ganze Nacht lang klaglos und ohne Unterbrechung aufblieb, ein krankes Kind auf dem Schoß hielt, ihm etwas vorsummte und es gleichförmig hin und her wiegte, um es zu trösten. Ich aber konnte nicht einmal zehn Minuten wach bleiben. Meine einzige Aufgabe bestand darin, im Kamin Holz nachzulegen. Im Laufe der Nacht tat ich das zehn- bis zwölfmal, doch immer musste ich eigens herbeigerufen werden und immer war ich wieder eingeschlafen, noch bevor ich meiner Aufgabe nachgekommen war oder gleich danach.
Nein, nichts ist der Belastbarkeit einer Frau vergleichbar. Im militärischen Leben würde sie eine ganze Armee von Männern ermüden, ob im Lager oder auf dem Marsch. Ich erinnere mich noch voller Bewunderung an jene Frau, die, als mein Bruder und ich im Sommer 1861 den Kontinent durchquerten, irgendwo in der Prärie in die Überlandpostkutsche zustieg, Station für Station kerzengerade und gutgelaunt dasaß und keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte. Zu jener Zeit war das einzige Vorkommnis des Tages in Carson City die Ankunft der Überlandpostkutsche. Gewöhnlich war die ganze Stadt zur Stelle, um dem Ereignis beizuwohnen. Die Männer kletterten, vor Krämpfen zusammengekrümmt, aus der Kutsche und konnten sich kaum auf den Beinen halten; körperlich und geistig erschöpft, die Nerven blank, die Stimmung am Siedepunkt; die Frauen dagegen stiegen lächelnd aus, von Müdigkeit keine
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