Meine geheime Autobiographie - Textedition
nicht begreifen zu können. In jeder anderen Hinsicht war er ein kluger Mann, aber wann immer er eine Passage für eines dieser Lesegelage auswählen sollte, verfaulte und versackte sein Intellekt. Am Vorabend der Lesung, die zugunsten eines Denkmals für Mr. Longfellow stattfand, traf ich in seinem Haus in Cambridge ein und bat ihn wahrscheinlich, mir die ausgewählte Passage zu zeigen. Jedenfalls zeigte er sie mir – und ich werde mich nie wieder an der Wahrheit versuchen, wenn seine Passage nicht siebentausend Wörter umfasste. Ich ließ ihn den Blick auf seine Uhr richten und die Zeit stoppen, während ich einen Absatz vorlas. Das Experiment bewies, dass es eine Stunde und zehn Minuten dauern würde, bis ich den gesamten Text gelesen hätte, und ich sagte: »Wohlgemerkt sind darin noch keine Unterbrechungenwie Applaus berücksichtigt – aus dem einfachen Grund, weil es nach über zwölf Minuten keinen mehr geben würde.«
Er verzweifelte über dem Versuch, etwas zu finden, was kurz genug war, und behauptete immer wieder, es gebe keine Passage, die kurz genug und gut genug sei – das heißt, er werde nie eine finden, die einem Publikum präsentiert werden könne.
Ich sagte: »Macht nichts. Besser als eine zu lange Passage – denn eine schlechte kurze könnte das Publikum ertragen, nicht aber eine gute lange.«
Schließlich einigten wir uns. Wir kürzten den Text auf etwa fünfzehn Minuten. An jenem Tag aber lasen er, Dr. Holmes, Aldrich und ich in dieser eindrucksvollsten Ansammlung von Autoren, die jemals vor dem Feind aufgestellt worden war – eine Batterie von sechzehn –, die einzigen kurzen Passagen. Ich glaube, es war diese Veranstaltung, wo wir zu sechzehn waren. Falls nicht, dann war es 1888 in Washington. Aber ich glaube, dass wir bei dieser Gelegenheit über jene unwiderstehliche, unbezwingliche Stärke verfügten. Es war an einem Nachmittag im Globe Theatre, der Saal brechend voll, und die Luft wäre zum Schneiden gewesen, wenn es denn welche gegeben hätte. Ich sehe noch die Masse der Menschen vor mir, die ihre Münder auf- und zumachten wie nach Luft schnappende Fische. Es war unerträglich.
Der anmutige und kompetente Redner Professor Norton eröffnete das Spiel mit einer hübschen Ansprache, die aber gute zwanzig Minuten dauerte. Und gute zehn Minuten davon, glaube ich, waren der Einführung von Dr. Oliver Wendell Holmes gewidmet, der so wenig eingeführt zu werden brauchte wie die Milchstraße. Dann rezitierte Dr. Holmes – wie nur Dr. Holmes es rezitieren konnte – »Das letzte Blatt«, und das Publikum erhob sich geschlossen wie ein Mann und geriet in einen Taumel verehrungsvollen Entzückens. Und das Publikum tobte und tobte und entlockte dem Doktor als Zugabe ein weiteres Gedicht; es tobte abermals und erhielt ein drittes – obwohl der Beifallssturm diesmal nicht ganz so heftig ausfiel wie bei den vorhergehenden Ausbrüchen. Inzwischen hatte Dr. Holmes selbst einen Teil seines Verstandes verloren und fuhr tatsächlich fort, ein Gedicht nach dem anderen zu rezitieren, bis die Rufe nach Zugabe von Schweigen abgelöst wurden und er die letzte Zugabe von sich aus geben musste. Er war der liebenswürdigsteMensch in Boston, und es war jammervoll, was er sich da antat.
Ich hatte schon früh gelernt, mir den dritten Platz im Programm auszubedingen. Die Vorstellung begann um zwei Uhr. Mein Zug nach Hartford ging um vier. Für die Fahrt zum Bahnhof würde ich fünfzehn Minuten benötigen. Für meinen Text brauchte ich zehn. Ich las also die vorgesehenen zehn Minuten; unmittelbar darauf stürzte ich aus dem Theater und hätte meinen Zug um ein Haar verpasst. Später erfuhr ich, dass das Publikum, als Autor Nummer acht vortrat, um seine Messer am Publikum zu wetzen, in Gruppen, Scharen, Pulks und Lawinen aus dem Saal strömte, und ungefähr in diesem Moment wurde die Belagerung aufgegeben und der Konflikt beigelegt, obwohl sechs oder sieben Autoren noch gar nicht zu Wort gekommen waren.
Bei der Lesung in Washington im Frühjahr 88 gab es eine ganze Armee von Autoren. Sie alle trafen wie gewöhnlich überfrachtet ein. Nach meiner Messung las Thomas Nelson Page vierzig Minuten lang, und er stand auf der Liste gerade mal in der Mitte. Wir alle sollten um halb zehn im Weißen Haus eintreffen. Der Präsident und Mrs. Cleveland würden zugegen sein, und um halb elf mussten sie gehen – der Präsident hatte sich nach unserem Empfang im Weißen Haus um irgendwelche Amtsgeschäfte zu kümmern, da
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