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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Mr. Cleveland, der in Autorenlesungen unerfahren war, annahm, dass unser Empfang im Weißen Haus um halb zwölf vorüber wäre; hätte er sich allerdings mit Autorenlesungen so gut ausgekannt wie mit anderen Arten der Staatskunst, wäre ihm klar gewesen, dass wir bestimmt nicht vor dem ersten Frühstück fertig sein würden.
    Ich glaube, es war anlässlich dieses Besuches in Washington, dass mich Livy in ihrer steten Fürsorge auf meinen Auftritt im Weißen Haus vorbereitete. Nein, das stimmt nicht – das war früher. Dieses Mal war sie bei mir und konnte sich selbst um mich kümmern.

Montag, 5. März 1906
    Mrs. Clemens warnt
Mr. Clemens, als er am Cleveland-Empfang im
Weißen Haus teilnimmt – Beschreibt das Pariser Haus, in dem sie 1893
wohnten – Auch das Zimmer in der Villa Viviani – Auch das Esszimmer im
Haus in Riverdale – Erzählt, wie Mr. Clemens nach verschiedenen Dinners
»heruntergeputzt« wurde – Und vom Kartensystem der Signale – Brief von Mr. Gilder anlässlich Mr.
Clevelands neunundsechzigstem Geburtstag – Mason
    Ich war
schon immer kopflos. Ich bin kopflos zur Welt gekommen; und so beging ich unentwegt und ganz
unbewusst Verstöße gegen kleine Anstandsregeln, mit denen ich mir Demütigungen einhandelte, die mich
auch hätten demütigen müssen, es aber nicht taten, weil ich gar nicht wusste, dass überhaupt etwas
vorgefallen war. Aber Livy wusste es; und so fielen die Demütigungen ihr zu, dem armen Ding, das sie
gar nicht verdiente. Sie sagte immer, ich sei ihr schwierigstes Kind. Sie war sehr empfindlich, was
mich betraf. Es peinigte sie, mit ansehen zu müssen, wie ich Kopflosigkeiten beging, die mir Kritik
eintragen könnten, und so war sie stets wachsam und auf der Hut, um mich vor Verfehlungen der
beschriebenen Art zu schützen.
    Als
ich jenes Mal von Hartford nach Washington reiste, sagte sie: »Ich habe eine kleine Warnung
abgefasst und sie dir in die Westentasche gesteckt. Wenn du dich ankleidest, um zum
Schriftstellerempfang ins Weiße Haus zu gehen, wirst du instinktiv, wie es deine Gewohnheit ist, die
Finger in die Westentaschen stecken und die kleine Notiz dort finden. Lies sie sorgfältig durch und
halte dich an das, was da steht. Ich kann dich nicht begleiten, daher delegiere ich meine
Aufsichtspflicht an diese kleine Notiz. Wenn ich die Warnung jetzt ausspräche, würde sie dir doch
nur entfallen und wäre in wenigen Minuten vergessen.«
    Es war Präsident Clevelands erste Amtszeit. Ich hatte seine Frau
noch nie getroffen – so jung, schön, gutherzig, sympathisch, faszinierend. Als ich mich
zurechtgemacht hatte, um ins Weiße Haus zu fahren, fand ich tatsächlich jene kleine Notiz, die ich
längst vergessen hatte. Es war eine gewichtige kleine Notiz, eine ernste kleine Notiz, genau wie
ihre Verfasserin, aber sie brachte mich zum Lachen. Livys behutsame Ernsthaftigkeiten übten oftdiese Wirkung auf mich aus, wo der schönste Scherz des gewieftesten Humoristen
nichts ausgerichtet hätte, denn so leicht lache ich nicht.
    Als wir im Weißen Haus angelangt waren und ich dem Präsidenten die
Hand schüttelte, wollte er etwas sagen, doch ich unterbrach ihn und sagte:
    »Wenn Eure Exzellenz mich entschuldigen
wollen, ich werde gleich zurückkommen; aber zunächst muss ich mich um eine sehr wichtige
Angelegenheit kümmern, und zwar umgehend.«
    Ich wandte mich an Mrs. Cleveland, die junge, schöne,
faszinierende, überreichte ihr meine Visitenkarte, auf deren Rückseite ich geschrieben hatte:
»Er hat’s nicht getan«,
und bat sie, ihren Namen unter diese Worte zu setzen. 18
    Sie fragte: »Er hat’s nicht getan? Er
hat was nicht getan?«
    »Ach«,
antwortete ich, »nicht so wichtig. Wir können das jetzt nicht besprechen. Es ist dringend. Wollen
Sie bitte unterschreiben?« (Ich reichte ihr einen Füllfederhalter.)
    »Nein«, sagte sie, »ich kann mich nicht einfach so festlegen. Wer
hat etwas nicht getan – und was nicht getan?«
    »Ach«, sagte ich, »die Zeit verfliegt, verfliegt, verfliegt. Wollen
Sie mich nicht aus meiner Not befreien und Ihren Namen daruntersetzen? Es ist alles in Ordnung. Ich
gebe Ihnen mein Wort, dass alles in Ordnung ist.«
    Sie blickte verblüfft drein; doch zögernd und mechanisch nahm sie
den Füllfederhalter zur Hand und sagte:
    »Ich werde unterschreiben. Ich werde das Risiko eingehen. Aber
gleich danach müssen Sie mich aufklären, damit Sie festgenommen werden können, bevor Sie das Haus
verlassen, falls es um etwas Kriminelles geht.«
    Dann

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