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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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früher darauf
gekommen war. Ich sagte:
    »Livy,
weißt du, mich
nach
all diesen Abenden herunterzuputzen ist keine kluge Vorgehensweise. Du
könntest mich ein ganzes Jahr lang nach jedem Dinner herunterputzen, und doch werde ich bei jedem
darauffolgenden Dinner die gleichen verbotenen Dinge tun, als hättest du kein Wort gesagt, denn in
der Zwischenzeit wären mir alle deine Anweisungen längst entfallen. Ich glaube, du solltest mich
lieber unmittelbar vor dem Eintreffen der Gäste herunterputzen, dann kann ich einiges davon im Kopf
behalten und es auch berücksichtigen.«
    Sie gab zu, dass das vernünftig war und eine
sehr gute Idee. Dann gingen wir daran, ein System von Signalen auszuarbeiten, die sie mir während
des Dinners geben könnte; Signalen, die mir deutlich anzeigten, welches besondere Verbrechen ich
gerade verübte, damit ich zu einem anderen übergehen konnte. Allem Anschein nach hatte eine der
diebischsten Freuden der Kinder ein Ende gefunden und war aus ihrem Leben verschwunden. Jedenfalls
nahm ich das an, aber dem war nicht so. Die jungen unbelehrbaren Dinger stellten einen Wandschirm
auf, hinter dem sie sich während des Dinners versteckten, um nach Signalen zu horchen und sich
darüber zu amüsieren. Das Signalsystem war einfach, aber wirkungsvoll. War Mrs. Clemens einmal zu
sehr damit beschäftigt, sich mit ihrem Sitznachbarn zu unterhalten, und übersah, was ich gerade tat,
konnte sie sicher sein, von den Kindern hinter dem Wandschirm einen leisen Wink zu erhalten:
    »Blaue Karte, Mama«; oder »rote Karte,
Mama« – »grüne Karte, Mama«, so dass ich unter doppelter und dreifacher Bewachung stand. Was den
Augen der Mutter entging, entdeckten die Kinder.
    Wie gesagt, die Signale waren recht einfach, aber äußerst
wirkungsvoll. Auf einen Hinweis der Kinder hinter dem Wandschirm blickte Livy über den Tisch und
sagte mit interessierter Stimme, wenn nicht gar mit geheuchelter Sorge: »Was hast du mit der blauen
Karte gemacht, die auf der Frisierkommode lag –«
    Das genügte. Ich wusste, was vor sich ging – dass ich die Dame zu
meiner Rechten totquatschte und der Dame zu meiner Linken nicht genügend Aufmerksamkeit schenkte.
Die blaue Karte besagte: »Gönne der Dame zu deiner Rechten eine Feuerpause; attackiere die Dame zu
deiner Linken«, so dass ich unverzüglich dazu überging, mich energisch mit der Dame zu meiner Linken
zu unterhalten. Es dauerte nicht lange, bis ein anderer Wink erging, gefolgt von einer Bemerkung von
Mrs. Clemens, die sich scheinbar beiläufig auf eine rote Karte bezog, was bedeutete: »Oh, willst du
etwa den ganzen Abend dasitzen und kein Wort von dir geben? Wach auf und unterhalte dich endlich.«
Also erwachte ich und flutete den Tisch mit meinem Redeschwall. Wir verwendeten eine Reihe
verschiedenfarbiger Karten, deren jede eine bestimmte Bedeutung hatte und meine Aufmerksamkeit auf
das eine oderandere Verbrechen in meinem Sündenregister lenkte; ein überaus
nützliches System. Es war ganz und gar erfolgreich. Es war wie Buck Fanshaws Unruhen – es
unterdrückte die Unruhen, bevor sie richtig losgehen konnten. Während des Dinners verhinderte es ein
Verbrechen ums andere, und am Ende ging ich immer als strahlender Sieger hervor und wurde mit
wohlverdientem Lob bedacht, das ich jedes Mal auf der Stelle erhielt.
    Jener Abend im Weißen Haus, als Mrs.
Cleveland die Visitenkarte unterschrieb, liegt lange Jahre zurück. Vieles ist seither geschehen. Die
Kinder der Clevelands sind zur Welt gekommen. Ruth, die Erstgeborene, die ich nie kennengelernt
habe, mit der ich jedoch, als sie sehr klein war, korrespondierte, erblühte noch zu einem lieblichen
jungen Mädchen, dann starb sie.
    Heute kam dieser Brief, und er ruft mir die Clevelands, die Vergangenheit und meine verlorene
kleine Briefeschreiberin ins Gedächtnis.
     
    Editorial Department
    The Century Magazine
    Union Square, New York
    3. März 1906
    Mein lieber Mr. Clemens,
    Präsident Finley und ich sammeln Briefe an Ex-Präsident Cleveland, die seine Freunde ihm anlässlich
seines 69. Geburtstags schreiben.
    Sollte Ihnen
der Plan zusagen, schicken Sie freundlicherweise mir den Gruß, versiegelt in einem gesonderten
Umschlag, an die obige Anschrift, und ich werde diesen mit den anderen Briefen nach Süden schicken,
damit er sie alle zusammen rechtzeitig am 18. dieses Monats erhält.
    Ihr sehr ergebener
    R. W.
Gilder
    G.
    Mr. Samuel L. Clemens
     
    Als die kleine Ruth etwa ein oder anderthalb Jahre alt war,

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