Meine geheime Autobiographie - Textedition
aussichtslose Lage und ein flehentliches
Bitten um eine weitere Chance hervor.
Am Morgen sah ich, dass es ein Fehlalarm gewesen war, und
beschloss, die Geschäfte wie gewohnt aufzunehmen und eine weitere Mahnung abzuwarten.
Ein Grundsatz lautet: »Die Geschichte
wiederholt sich.« Vor ein, zwei Wochen aß mein angeheirateter Neffe Edward Loomis zusammen mit
seiner Frau, meiner Nichte (geborene Julie Langdon), bei uns zu Abend. Er ist Vizepräsident der
Delaware-und-Lackawanna-Eisenbahngesellschaft. Seine Amtspflichten führten ihn häufig nach Elmira,
New York, die Gebote seiner Brautwerbung noch häufiger, und so lernte er im Laufe der Zeit viele
Bürger des Ortes kennen. Beim Abendessen erwähnte er einen Umstand, der mich ungefähr sechzig Jahre
zurückversetzte, bis ich mich in dem kleinen Schlafzimmer während jener stürmischen Nacht
wiederfand, und der mir in Erinnerung rief, wie ehrenwert mein Verhalten in jener langen Nacht
gewesen war und dass es von Schandflecken stets frei geblieben ist. Er sagte, Mr. Buckly,
Kirchendiener oder dergleichen der Episkopalkirche von Elmira, sei viele Jahre ein tüchtiger
Aufseher über sämtliche weltlichen Angelegenheiten der Kirche gewesen und von der gesamten Gemeinde
als Stütze, Segen und unbezahlbarer Schatz angesehen worden. Allerdings hatte er zwei
Charakterfehler – keine großen, aber sie waren doch groß genug, betrachtete man sie vor dem
Hintergrund seines zutiefst religiösen Charakters: Er trank sehr viel, und beim Fluchen konnte er
einen Bremser übertrumpfen. Es entstand eine Bewegung mit dem Ziel, ihn zu überreden, diese Laster
abzulegen, und nachdem er sich mit seinem Kumpel beratschlagt hatte, der in einer anderenEpiskopalkirche dieselbe Position bekleidete wie er und dessen Charakterfehler
Duplikate seiner eigenen waren und auch in jener Gemeinde Bedauern hervorgerufen hatten, beschlossen
die beiden, sich zu bessern – nicht ganz und gar, aber wenigstens zur Hälfte. Sie schworen dem
Alkohol ab und warteten auf Ergebnisse. Neun Tage lang waren die Ergebnisse vollkommen
zufriedenstellend, und sie konnten zahlreiche Komplimente und Glückwünsche entgegennehmen. Dann
aber, am Silvesterabend, hatten sie anderthalb Meilen außerhalb der Stadt zu tun, gleich hinter der
Grenze des Staates New York. Alles ging gut an jenem Abend im Schankraum des Gasthauses – zuletzt
jedoch erwies sich die Silvesterfeier dieser Dorfbewohner als zu viel für sie. Es war eine
bitterkalte Nacht, und bald schon übten die zahlreichen süßen Grogs, die herumgereicht wurden, einen
mächtigen Einfluss auf die neuen Prohibitionisten aus. Schließlich bemerkte Bucklys Freund:
»Buckly, ist dir schon aufgefallen, dass
wir uns
außerhalb der Diözese
befinden?«
Damit endete Besserungsvorhaben Nr. 1. Daraufhin versuchten sie es
mit Besserungsvorhaben Nr. 2. Eine Weile waren sie erfolgreich und erhielten viel Beifall. Jetzt
komme ich auf den Vorfall zu sprechen, der mich, wie vorhin angemerkt, sechzig Jahre
zurückversetzte.
Eines Morgens
begegnete ebenjener Stiefneffe von mir, Loomis, Buckly auf der Straße und sagte:
»Sie haben tapfer gegen Ihre
Charakterfehler angekämpft. Mir ist bekannt, dass Sie mit Nr. 1 gescheitert sind, aber mir ist
ebenso bekannt, dass Sie mit Nr. 2 mehr Glück haben.«
»Ja«, antwortete Buckly, »Nr. 2 läuft bislang ganz gut, und wir
sind voller Hoffnung.«
Loomis
sagte: »Buckly, natürlich haben Sie Kümmernisse wie andere auch, aber Sie lassen sich nie etwas
anmerken. Ich habe Sie noch nie anders als fröhlich erlebt. Sind Sie immer fröhlich? Einfach immer
fröhlich?«
»Nein, wirklich«,
antwortete Buckly, »ich kann nicht behaupten, dass ich immer fröhlich wäre, aber – nun, Sie kennen
diese Nächte: Sagen wir mal, Sie wachen mitten in der Nacht auf, und die ganze Welt ist in
Dunkelheit versunken, und es liegen drohend Stürme und Erdbeben und Katastrophenjeder Art in der Luft, und Ihnen ist kalt und klamm; und wenn mir das widerfährt, merke ich,
wie voll der Sünden ich bin, und mir wird das Herz schwer, und es dreht sich mir im Leibe um, und
ich stehe solche Ängste aus, Ängste! – ach, sie sind unbeschreiblich, diese Ängste, die mich
überfallen und peinigen, und ich schlüpfe aus dem Bett, falle auf die Knie und bete und bete und
bete und verspreche, dass ich gut sein
werde
, wenn man mir nur eine weitere Chance gibt.
Und wissen Sie, am Morgen scheint die Sonne
so
schön, und die Vögel singen, und die ganze
Welt ist herrlich
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