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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Idaho
     
    [EXKLUSIVBERICHT FÜR DIE
TIMES
]
    WALLACE (Idaho) 2. Febr. –
[Exklusivbericht.] Capt. A. O. Toncray, gemeinhin als »Huckleberry Finn« bekannt, da er das Vorbild
für Mark Twains berühmte Romanfigur abgegeben haben soll, wurde heute Morgen in seinem Zimmer in
Murray tot infolge Herzversagens aufgefunden.
    Capt. Toncray, gebürtig aus Hannibal, Mo., war 65 Jahre alt. In früheren Jahren trieb er sich viel
auf den Schaufelraddampfern auf dem Mississippi und dem Missouri herum, regelmäßig in Kontakt mit
Samuel L. Clemens, und es heißt, dass »Mark Twain« Toncray später als Vorbild für »Huckleberry Finn«
verwendete. 1884 kam er nach Murray und führte seither ein ruhiges Leben.
     
    Ich habe ihm geantwortet, Huckleberry Finn sei Tom
Blankenship. Da der Fragesteller das Hannibal der Vierziger offenbar kannte, wird er sich mühelos an
Tom Blankenship erinnern. Toms Vater war damals der Stadtsäufer, einst ein inoffizielles, aber
äußerst klar definiertes Amt. Er war der Nachfolger von »General« Gaines und eine Zeitlang
alleiniger Amtsinhaber; danach allerdings stellte Jimmy Finn seine Fähigkeiten unter Beweis und
stritt sich mit ihm um die Position, so dass wir zwei Stadtsäufer zugleich hatten – und das sorgte
im Dorf für so viel Unruhe, wie es im vierzehnten Jahrhundert die Christenheit erlebte, als es zu
ein und derselben Zeit zwei Päpste gab.
    In
Huckleberry Finn
habe ich Tom
Blankenship genau so gezeichnet, wie er war. Er war unwissend, ungewaschen und unzureichend ernährt;
er hatte aber ein so gutes Herz wie nur irgendjemand. Seine Freiheit war schrankenlos. Er war der
einzige wirklich unabhängige Mensch in der ganzen Gemeinde – ob Knabe oder Mann; folglich war er
gelassen und glücklich ohne Unterlass und wurden von uns anderen beneidet. Wir mochten ihn; wir
genossen seine Gesellschaft. Und da uns der Umgang mit ihm von unseren Eltern verboten war, verdrei-
und vervierfachte das den Wert, und so suchten wir seine Gesellschaft häufiger als die jedes anderen
Jungen. Vor vier Jahren hörte ich, er sei Friedensrichter in einem entlegenen Dorf in Montana, ein
braver Bürger und hoch angesehen.
    Während Jimmy Finns Amtszeit war er (Jimmy) nicht anspruchsvoll; nicht wählerisch; nicht allzu
genau; er war im Großen und Ganzen demokratisch – und schlief auf dem verlassenen Gerberhof bei den
Schweinen. Mein Vater versuchte einmal, ihn zu belehren, aber ohne Erfolg. Mein Vater war kein
professioneller Weltverbesserer. Der Geist der Reform regte sich in ihm nur sporadisch. Nur
gelegentlich brach er hervor, dazwischen lagen längere Pausen. Einmal versuchte er, Indianer Joe zu
bekehren. Auch das war ein Misserfolg. Es war ein Misserfolg, und wir Jungs waren froh darüber. Denn
ein betrunkener Indianer Joe war interessant für uns und eine Wohltat, ein nüchterner Indianer Joe
hingegen ein trostloser Anblick. Wir verfolgten die Experimente, die mein Vater ihm angedeihen ließ,
mit großer Sorge, aber sie gingen gut aus, und wir waren zufrieden. Indianer Joe betrank sich noch
öfter als zuvor und wurde unausstehlich interessant.
    Ich glaube, in
Tom Sawyer
habe ich Indianer Joe in der
Höhle verhungern lassen. Aber das diente wohl nur dazu, die Erfordernisse der romantischen Literatur
zu erfüllen. Ich weiß nicht mehr, ob er in der Höhle starb oder davor, weiß aber noch, dass mich die
Nachricht von seinem Tod zu einem höchst unglücklichen Zeitpunkt erreichte – das heißt zur
Schlafenszeit in einer Sommernacht, als mich ein gewaltiger Gewittersturm und ein begleitender
sintflutartiger Regenguss, der Straßen und Gassen in Flüsse verwandelte, Reue empfinden ließ und zu
dem Entschluss bewog, ein besseres Leben zu führen. Ich erinnere mich noch an die schrecklichen
Donnerschläge,die grellweißen Blitze und den Regen, der wild gegen die
Fensterscheiben peitschte. Aus meiner eigenen Weisheit wusste ich sehr wohl, wem der ganze wilde
Tumult galt – Satan war gekommen, um Indianer Joe zu holen. Ich hatte nicht den leisesten Zweifel.
Es war genau das Richtige, wenn jemand wie Indianer Joe in der Unterwelt benötigt wurde, und ich
hätte es sonderbar und unerklärlich gefunden, wenn Satan ihn auf weniger eindrucksvolle Weise holen
gekommen wäre. Bei jedem Blitzschlag zuckte und schrumpfte ich voller Todesangst zusammen, und in
der kurzen Finsternis, die darauf folgte, stieß ich mit einer mir eigentlich wesensfremden Kraft,
Gefühligkeit und Aufrichtigkeit ein Klagelied über meine

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