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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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die blonden Locken von Will Bowen und John Robards.
Mein Haar war ein dichtes Gewirr kurzer Kringel, ebenso das meines Bruders Henry. Wir probierten
alle möglichen Kunstgriffe, um das Gekräusel zu bändigen, damit es sich zurückschleudern ließ,
hatten aber keinen Erfolg. Manchmal, wenn wir unseren Schopf ganz nass machten und uns dann die
Haare kämmten und bürsteten, bis sie straff und flach am Kopf anlagen, konnten wir sie vorübergehend
glätten, und das bescherte uns einen wohligen Augenblick der Freude; doch sobald wir sie
zurückschleuderten, zogen sie sich wieder zu Kringeln zusammen, und unser Glücksgefühl war
dahin.
    George war in jeder
Hinsicht ein feiner junger Kerl. Er und Mary Moss waren ein Pärchen und hatten sich bereits in
Kindertagen ewige Treue geschworen. Doch jetzt kam Mr. Lakenan nach Hannibal und siedelte sich dort
an. Er nahm sofort eine wichtige Stellung in der kleinen Stadt ein, die er auch beibehielt. Ihm
eilte ein ausgezeichneter Ruf als Anwalt voraus. Er war gebildet, kultiviert; ernster als ernst,
würdevoll in Umgang und Benehmen. Er war ein eher älterer Junggeselle – was damals so als älterer
Junggeselle galt. Er war ein aufstrebender Mann. Von der Gemeinde wurde er mit beträchtlicher
Ehrfurcht bedacht, und als gute Partie führte er den Heiratsmarkt an. Jenes blühende und hübsche
Ding, Mary Moss, gewann seine Gunst. Er belagerte sie und obsiegte. Jedermann sagte, sie habe ihn
ihren Eltern, nicht sich selbst zuliebe akzeptiert. Sie wurden getraut. Und wieder sagte jedermann,
der dabei gewesen war, Mr. Lakenan übernehme jetzt ihren Unterricht ganz allein und habe vor, sie
den Anforderungen entsprechend zu erziehen und eine passende Gefährtin aus ihr zu machen. Das mag
zutreffen.Oder auch nicht. Aber interessant war es allemal. Das ist in einem
Dorf wie diesem das dringlichste Erfordernis. Bald darauf zog George in eine abgelegene Gegend, wo
er starb – an gebrochenem Herzen, wie jedermann sagte. Das mochte zutreffen, denn er hätte allen
Grund dazu gehabt. Er hätte lange suchen müssen, um eine andere Mary Moss zu finden.
    Wie viel Zeit seit dieser kleinen
Tragödie vergangen ist! Außer den Weißhaarigen weiß heute niemand mehr davon. Lakenan ist schon
viele Jahre tot, aber Mary lebt immer noch und ist immer noch schön, obwohl sie Enkel hat. Ich sah
sie und eine ihrer verheirateten Töchter, als ich vor vier Jahren nach Missouri reiste, um die
Ehrendoktorwürde der Missouri University entgegenzunehmen.
    John Robards war Georges kleiner Bruder, ein winziger Bursche mit
goldenen Seidenvorhängen vor dem Gesicht, die ihm bis auf die Schultern und noch weiter
hinabreichten und die er hinreißend zurückschleudern konnte. Als er zwölf Jahre alt war, durchquerte
er mitten im Goldrausch von 49 mit seinem Vater die Prärie; und ich erinnere mich noch an den
Aufbruch des Reiterzugs, der westwärts sprengte. Wir alle waren da, ihnen nachzuschauen und sie zu
beneiden. Und ich sehe noch den stolzen kleinen Burschen vor mir, wie er auf einem großen Pferd an
mir vorüberpreschte und seine langen Locken hinter ihm herwehten. Wir waren alle da, um neidvoll
zuzugucken, als er zwei Jahre später mit Glanz und Gloria zurückkehrte –
denn er war
gereist!
Keiner von uns hatte sich auch nur vierzig Meilen von zu Hause entfernt. Er dagegen
hatte den Kontinent durchquert. Er war in den Goldminen gewesen, jenem Märchenland unserer
Einbildungskraft. Und er hatte etwas noch Wunderbareres zuwege gebracht. Er war zu Schiff gereist –
zu Schiff auf einem richtigen Ozean; zu Schiff auf drei richtigen Ozeanen. Denn er war den Pazifik
hinab und ums Hoorn gesegelt inmitten von Eisbergen, durch Schneestürme und wilde Winterwinde und
war weitergesegelt und um die Ecke und mit den Passatwinden nach Norden und durch die warmen
Äquatorialgewässer gesaust – und sein gebräuntes Gesicht war der Beweis für alles, was er
durchgemacht hatte. Wir hätten Satan unsere Seelen verkauft, um mit ihm den Platz tauschen zu
dürfen.
    Als ich vor vier Jahren
nach Missouri reiste, sah ich ihn wieder. Da war eralt – wenn auch nicht ganz
so alt wie ich –, und die Bürde des Lebens lastete auf ihm. Er erzählte, seine Enkelin, zwölf Jahre
alt, habe meine Bücher gelesen und würde mich gern treffen. Es war schrecklich, denn sie war an ihr
Zimmer gefesselt und vom Tod gezeichnet. Und John wusste, dass sie im Sterben lag. Zwölf Jahre alt –
das Alter ihres Großvaters, als er davongeritten war auf seiner

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