Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
Vom Netzwerk:
denn auf die Idee, mir das Gleiche zu verordnen, kam ich nicht. Solange Higbie eine Stelle hatte, wollte ich keine. Eine Stelle reichte völlig für eine so kleine Familie – und so war ich in den folgenden Wochen ein Mann der Muße, konnte Bücher und Zeitungen lesen und jeden Abend Kompott aus gedörrten Äpfeln essen, als wäre Sonntag, und ich wollte im Leben keine steilere Karriere als diese. Higbie unterstützte mich großzügig, beschwerte sich kein einziges Mal und schlug mir kein einziges Mal vor loszuziehen, um mir eine unbezahlte Stelle zu suchen und mich selbst zu versorgen.
    Das war 1862. Ende 62 – vielleicht war es auch Anfang 63 – trennten sich unsere Wege, und ich ging nach Virginia City, denn man hatte mir angeboten, William H. Wrights Stelle als alleiniger Reporter des
Territorial Enterprise
anzutreten und drei Monate lang seine Arbeit zu übernehmen, während er die Prärie nach Iowa durchquerte, um seine Familie zu besuchen. Aber darüber habe ich bereits in
Durch dick und dünn
berichtet.
    Higbie habe ich in all den vierundvierzig Jahren nicht wiedergesehen.
    Kurz nach meiner Hochzeit im Jahre 1870 bekam ich einen Brief von einem jungen Mann aus St. Louis, möglicherweise ein entfernter Verwandter von mir – das weiß ich jetzt nicht mehr –, aber in seinem Brief schrieb er, er habe das Bestreben und den Ehrgeiz, Journalist zu werden – ob ich ihm wohl für eine der Zeitungen in St. Louis ein Empfehlungsschreiben ausstellen und mich dafür verwenden könnte, ihm eine Stelle als Reporter zu verschaffen. Es war das erste Mal, dass ich neuerlich die Gelegenheit erhielt, meine großartige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme auszuprobieren. Ich schrieb ihm und versprach, ihm bei jeder beliebigen Zeitung in St. Louis eine Stelle zu besorgen; er könne sich eine aussuchen, aber er müsse mir versprechen, alle meine Anweisungen getreulich zu befolgen. Er antwortete, er werde meinen Anweisungen buchstäblich und mit Begeisterung Folge leisten. SeinBrief floss über vor Dankbarkeit – verfrühter Dankbarkeit. Er erkundigte sich nach meinen Anweisungen. Ich schickte sie ihm. Ich sagte, er dürfe kein Empfehlungsschreiben von mir oder sonst jemandem verwenden. Er müsse zur Zeitung seiner Wahl gehen und sagen, er habe nichts zu tun, sei das Nichtstun leid und wolle Arbeit – er sehne sich nach Arbeit, ja verzehre sich nach ihr – ein Gehalt sei ihm nicht wichtig, er wolle kein Gehalt, sondern werde seinen Lebensunterhalt anders bestreiten – er wolle Arbeit, nichts als Arbeit, keine bestimmte Arbeit, sondern jede beliebige, die sie für ihn hätten. Er könne die Redaktionsbüros ausfegen, die Tintenfässer und die Leimflaschen nachfüllen, Botengänge erledigen und sich auf jede erdenkliche Weise nützlich machen.
    Ich ahnte, dass meine Maßnahme nicht bei jedem greifen würde – einige würden unbezahlte Arbeit verschmähen und einen Grund zur Selbstverachtung darin erblicken; viele würden mich für einen Narren halten, weil ich ein derartiges Projekt vorschlug; wieder andere hätten einfach nicht genug Charakter, um sich der Maßnahme entschlossen anzuvertrauen und sie zu erproben. Ich war gespannt, um was für eine Art von Kandidaten es sich hier handelte, aber um das herauszufinden, musste ich mich natürlich eine Weile gedulden. Ich hatte ihm gesagt, er dürfe nie nach einem Gehalt verlangen, dürfe sich nie verlocken lassen, diesen Fehler zu begehen; früher oder später werde von irgendwo ein Gehaltsangebot kommen, und in diesem Fall müsse er schnurstracks zu seinem Arbeitgeber gehen und ihm die Gelegenheit geben, ihm das gleiche Gehalt anzubieten, und danach müsse er bleiben, wo er sei – solange er bei jemandem angestellt sei, dürfe er nie um einen Gehaltsvorschuss bitten; das werde sich von selbst ergeben, solange er nur seinen Wert unter Beweis stelle.
    Meine Maßnahme funktionierte auch diesmal. Der junge Bursche wählte seine Zeitung aus, und in den ersten Tagen fegte er, verrichtete andere bescheidene Arbeiten; und er hielt den Mund. Dann begann die Redaktion, ihn wahrzunehmen. Man sah, dass man ihn, um sich Zeit und Mühe zu ersparen, auf vielerlei Weise einsetzen konnte, ohne dass Kosten anfielen. Man bemerkte, dass er aufmerksam und willig war. Bald erweiterte man seinen Einsatzbereich. Dann wagte er es, sich auf eine andere meiner Anweisungeneinzulassen; hatte ich ihm doch geraten, nichts zu überstürzen, sondern sich zuerst seine Popularität zu sichern. Nun setzte er diese

Weitere Kostenlose Bücher