Meine geheime Autobiographie - Textedition
Rauch zu genießen, bis die Nacht sie wiederlöschen würde. Da war er zweiundsiebzig Jahre alt. Aber ich vergesse eine andere, sehr ausgeprägte Charaktereigenschaft. Das war seine Schwermut, seine Niedergeschlagenheit, seine Verzweiflung; tagtäglich verschafften sie sich ihren Platz neben seinen Leidenschaften. So war sein Tag von Sonnenaufgang bis Mitternacht aufgeteilt zwischen hellem Sonnenschein und schwarzen Wolken – nein, nicht aufgeteilt, von beidem durchzogen. Jeden Tag war er der fröhlichste und hoffnungsvollste Mensch, der je gelebt hat, denke ich; und zugleich war er jeden Tag der unglücklichste Mensch, der je gelebt hat.
Während seiner Lehrzeit in St. Louis schloss er Bekanntschaft mit Edward Bates, der später in Mr. Lincolns erstem Kabinett saß. Bates war ein feiner Mann, ehrenwert und rechtschaffen, und dazu ein ausgezeichneter Anwalt. Er ließ sich von Orion geduldig jedes neue Projekt vorstellen, besprach es mit ihm und löschte es mit guten Argumenten und unwiderstehlicher Logik aus – zu Beginn. Nach ein paar Wochen begriff er jedoch, dass diese Mühe überflüssig war; dass er auf das neue Projekt gar nicht einzugehen brauchte und es sich noch in derselben Nacht ganz von allein auslöschen würde. Orion meinte, Anwalt werden zu wollen. Mr. Bates ermutigte ihn, und so studierte Orion fast eine Woche lang Jurisprudenz, aber natürlich ließ er es bald zugunsten neuerer Ideen fallen. Er wollte Redner werden. Mr. Bates erteilte ihm Unterricht. Mr. Bates ging den Korridor auf und ab, las aus einem englischen Buch vor und übersetzte das Englische fließend ins Französische, und diese Übung empfahl er auch Orion. Da Orion kein Französisch sprach, begann er ein Französischstudium, loderte zwei oder drei Tage dafür wie ein Vulkan; und gab es auf. Während seiner Lehrzeit in St. Louis trat er mehreren Kirchen bei, einer nach der anderen, und unterrichtete in deren Sonntagsschulen – mit jedem seiner Religionswechsel ging ein Sonntagsschulwechsel einher. Entsprechend sprunghaft war er in Sachen Politik – heute Whig, nächste Woche Demokrat und in der Woche darauf wieder etwas Neues, was er auf dem politischen Marktplatz aufgetrieben hatte. An dieser Stelle darf ich anmerken, dass er während seines ganzen langen Lebens eine Religion gegen die nächste eintauschte und den Kulissenwechsel jedes Mal genoss. Ich will auch anmerken, dass seine Aufrichtigkeit niemals angezweifeltwurde; ebenso wenig wie seine Wahrhaftigkeit; und dass seine Redlichkeit in Geschäfts- und Geldangelegenheiten niemals in Frage gestellt wurde. Trotz seiner immer wiederkehrenden Launenhaftigkeit und seines Wankelmutes hatte er hehre, stets hehre und absolut unerschütterliche Prinzipien. Er war das seltsamste Gemisch, das je in menschliche Form gegossen wurde. Eine solche Person neigt dazu, impulsiv und gedankenlos zu handeln; das war Orions Art. Alles, was er tat, tat er voller Überzeugung und Begeisterung und mit einem prahlerischen Stolz auf das, was er tat – und was es auch immer sein mochte, ob gut, ob schlecht oder irgendwo dazwischen, bevor vierundzwanzig Stunden um waren, ging er reuevoll in Sack und Asche. Pessimisten werden als solche geboren, nicht dazu gemacht. Optimisten werden als solche geboren, nicht dazu gemacht. Er aber war, glaube ich, der einzige Mensch, den ich kannte, dem Pessimismus und Optimismus zu gleichen Teilen innewohnten. Abgesehen von seinen festen Prinzipien war er so unstet wie Wasser. Mit einem einzigen Wort konnte man ihm die Stimmung verderben; mit einem anderen sie wieder in den Himmel heben. Mit einem Wort der Missbilligung konnte man ihm das Herz brechen; mit einem Wort der Billigung ihn glücklich machen wie einen Engel. Und es gab keinen Grund, diesen Mirakeln irgendeinen Sinn oder eine Spur von Geisteshaltung zu unterlegen; alles und nichts mochte als Erklärung dienen.
Er hatte eine weitere ausgeprägte Eigenschaft, und diese war die Mutter aller Eigenschaften, von denen ich eben sprach, und zwar ein starkes Verlangen nach Anerkennung. Er war so erpicht auf Anerkennung, so mädchenhaft bemüht, ohne Unterschied die Anerkennung wirklich aller zu gewinnen, dass er jederzeit bereit war, seine eigenen Ansichten, Einstellungen und Überzeugungen zu opfern, um die Anerkennung eines beliebigen Menschen zu erlangen, der mit ihm nicht eins war. Es möge klar sein, dass ich seine grundlegenden Prinzipien hiervon ausnehme. Diese opferte er nie, um jemandem zu gefallen. Obgleich
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