Meine geheime Autobiographie - Textedition
unter Sklaven und Sklavenhaltern geboren und aufgewachsen, war er seit seiner Kindheit bis zu seinem Tod ein Gegner der Sklaverei. Er war immer wahrhaftig; immer aufrichtig; immer ehrlich und ehrenhaft. Doch bei kleinen Angelegenheiten – so belanglosen wie Religion,Politik und dergleichen – entwickelte er nicht eine einzige Überzeugung, die der missbilligenden Bemerkung einer Katze standgehalten hätte.
Er träumte ununterbrochen, war ein Träumer von Geburt an, und diese Eigenart brachte ihn hin und wieder in Schwierigkeiten. Einmal, er war dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt und als Geselle auf der Walz, hatte er den reizenden Einfall, nach Hannibal zu kommen, ohne uns vorher zu benachrichtigen, um der Familie eine freudige Überraschung zu bereiten. Hätte er uns benachrichtigt, wäre ihm mitgeteilt worden, dass wir umgezogen waren, dass jetzt dieser ruppige Seebär mit der Bassstimme, unser Hausarzt Dr. Meredith, in unserem früheren Haus wohnte und Orions ehemaliges Zimmer von Dr. Merediths Schwestern, zwei reifen alten Jungfern, in Beschlag genommen worden war. Orion traf mitten in der Nacht mit dem Schaufelraddampfer in Hannibal ein und begab sich mit gewohnter Leidenschaft auf seinen Ausflug; ganz entflammt von seinem grandiosen Vorhaben, malte er sich die Überraschung genüsslich im Vorhinein aus. Immer genoss er die Dinge im Vorhinein; das war seine Art. Nie konnte er ein Ereignis abwarten, sondern musste es sich zurechtfabulieren und im Voraus genießen – wenn das Ereignis dann eintrat, stellte er mitunter fest, dass es gar nicht so schön war, wie er es sich in seiner Vorstellung zurechtgedacht hatte, und dann litt er unter dem Verlust, weil er sich das imaginäre Ereignis nicht bewahrt und die Realität hatte Realität sein lassen.
Als er am Haus ankam, ging er zur Hintertür, zog sich die Stiefel aus, schlich die Treppe hinauf und gelangte, ohne irgendeinen Schläfer geweckt zu haben, ins Zimmer der beiden alten Jungfern. Im Dunkeln entkleidete er sich, schlüpfte ins Bett und kuschelte sich an jemanden an. Er war ein bisschen überrascht, aber nicht sehr – dachte er doch, es sei unser Bruder Ben. Es war Winter, das Bett gemütlich, und der vermeintliche Ben machte es nur umso gemütlicher – und so schlief er ein, äußerst zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Dinge und voll glücklicher Träume über die Geschehnisse des kommenden Morgens. Aber zunächst einmal sollte etwas ganz anderes geschehen, und das sogleich. Die alte Jungfer, der er auf die Pelle gerückt war, wand sich und zappelte, erwachte halb und verbat sich die ungebührliche Nähe. Die Stimme lähmte Orion. Er konnte seine Gliedmaßen nichtbewegen; ihm stockte der Atem; und die Bedrängte tastete umher, fand Orions neuen Backenbart und kreischte: »Das ist ja ein Mann!« Damit war die Lähmung beseitigt, und im Bruchteil einer Sekunde sprang Orion aus dem Bett und tappte in der Dunkelheit nach seinen Kleidern. Jetzt begannen beide Jungfern zu kreischen, so dass Orion nicht blieb, bis er seine gesamte Garderobe beisammenhatte. Mit den Teilen, die er zu fassen bekam, stürzte er davon. Er floh zum oberen Treppenabsatz und wollte eben hinunterlaufen, da war er abermals wie gelähmt, kam doch die schwache gelbe Flamme einer Kerze die Treppe emporgeflogen, und er meinte, dahinter Dr. Meredith zu erkennen, und so war es auch. Dieser trug keine nennenswerte Kleidung am Leib, aber das machte nichts, für den Anlass war er hinreichend gerüstet, denn in der Hand hielt er ein Fleischermesser. Orion rief ihm etwas zu, und das rettete ihm das Leben, denn der Doktor erkannte die Stimme. Dann erläuterte er Orion in seinen hochseetüchtigen Basstönen, die ich als kleiner Junge so bewundert hatte, die Veränderungen, die stattgefunden hatten, erklärte ihm, wo er die Familie Clemens finde, und schloss mit dem recht überflüssigen Rat, sich lieber anzukündigen, bevor er sich auf ein zweites derartiges Abenteuer einlasse – ein Rat, den Orion vermutlich nicht mehr benötigte, solange er lebte.
In einer bitterkalten Dezembernacht saß Orion bis morgens um drei mit einem Buch da, dann, ohne auf die Uhr zu gucken, brach er auf, um eine junge Dame zu besuchen. Er hämmerte und hämmerte an ihre Tür; bekam keine Antwort; verstand die Welt nicht mehr. Jeder andere hätte es als ein Zeichen gedeutet, so oder so, hätte seine Schlüsse gezogen und wäre nach Hause gegangen. Doch Orion zog keine Schlüsse, sondern hämmerte und
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