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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Land und verdiente sich so seinen Lohn. Von diesem unterstützte er meine Mutter und meinen Bruder Henry, der zwei Jahre jünger war als ich. Meine Schwester Pamela half aus, indem sie Klavierunterricht gab. So kamen wir zwar über die Runden, aber es war doch ein mühsames Dahinschlittern. Ich gehörte nicht zu den Belastungen, denn gleich nach dem Tod meines Vater wurde ich von der Schule genommenund als Druckerlehrling im Büro des
Hannibal Courier
untergebracht, wo Mr. Ament, Herausgeber und Eigentümer des Blattes, mir die übliche Lehrlingsvergütung bewilligte – das heißt Verpflegung und Bekleidung, aber kein Geld. Die Bekleidung umfasste zwei Anzüge pro Jahr, aber einer der Anzüge blieb immer aus, und solange Mr. Aments alte Kleidungsstücke zusammenhielten, wurde der andere auch nicht angeschafft. Ich war nur etwa halb so groß wie Ament, folglich bescherten mir seine Hemden das unbehagliche Gefühl, in einem Zirkuszelt zu leben, und seine Hosen musste ich mir bis zu den Ohren hochziehen, damit sie kurz genug waren.
    Es gab noch zwei andere Lehrlinge. Einer war Wales McCormick, siebzehn oder achtzehn Jahre alt und ein Hüne. Wenn er in Mr. Aments Kleidern steckte, passten sie ihm, wie die Kerze in ihre Gießform passt – also stand er die ganze Zeit kurz vor dem Ersticken, besonders im Sommer. Er war ein unbekümmertes, lustiges, bewundernswertes Geschöpf; er hatte keine Prinzipien, und man war bei ihm in wunderbarer Gesellschaft. Anfangs mussten wir drei Lehrlinge mit der alten Sklavenköchin und ihrer sehr hübschen, aufgeweckten und wohlerzogenen jungen Tochter, einer Mulattin, in der Küche essen. Zu seinem eigenen Vergnügen – denn um das Vergnügen anderer Leute kümmerte er sich meist nicht – hofierte Wales dieses Mulattenmädchen fortwährend und beharrlich, lärmend und nach allen Regeln der Kunst, womit er sie in helle Aufregung versetzte und die alte Mutter zu Tode ängstigte. Dann sagte sie immer: »Aber, aber, Master Wales, Master Wales, können Sie sich nicht benehmen?« Derart ermutigt, setzte Wales seine Aufmerksamkeiten natürlich fort, ja, er steigerte sie noch. Ralph und ich, wir starben fast vor Lachen. Denn um bei der Wahrheit zu bleiben, war der Kummer der alten Mutter nur gespielt. Sie wusste sehr wohl, dass es nach dem Brauch der sklavenhaltenden Gemeinden Wales’ gutes Recht war, das Mädchen zu hofieren, solange er wollte. Die Aufregung des Mädchens hingegen war vollkommen echt. Sie hatte einen feinsinnigen Charakter, nahm Wales’ übertriebenes Liebeswerben ernst und trug es ihm nach.
    Was das Essen betraf, bot der Küchentisch wenig Abwechslung, und genug gab es ohnehin nicht. Also hielten wir Lehrlinge uns mit Hilfe unserer eigenen Talente am Leben – will sagen, fast jede Nacht schlichen wir uns in denKeller durch einen Privateingang, den wir entdeckt hatten, stahlen Kartoffeln, Zwiebeln und derlei Dinge, trugen sie in die Innenstadt zur Druckerei, wo wir auf Pritschen auf dem Fußboden schliefen, setzten sie auf den Herd und hatten es herrlich und gut. Wales bereitete die Kartoffeln auf eine ganz wunderbar erlesene Art zu, die nur er beherrschte. Seither habe ich nur einmal erlebt, dass Kartoffeln auf dieselbe Weise zubereitet wurden. Das war Ende 1901, als Wilhelm II., deutscher Kaiser, bei einer privaten Verköstigung meine Anwesenheit wünschte. Und als die Kartoffeln aufgetragen wurden, war ich derart überrascht, dass mir mein Taktgefühl abhandenkam und ich, noch ehe ich es wiedererlangen konnte, eine unverzeihliche Sünde beging – ich stieß einen freudigen Willkommensruf für die Kartoffel aus und wandte mich damit an den Kaiser neben mir, statt abzuwarten, dass er das Gespräch eröffnete. Ich glaube, er bemühte sich aufrichtig, so zu tun, als sei er weder erschüttert noch empört, offenkundig aber war er genau das; und dem halben Dutzend Granden, die zugegen waren, erging es nicht anders. Alle waren wie versteinert, und keiner hätte ein Wort hervorgebracht, selbst wenn er es versucht hätte. Das grauenhafte Schweigen zog sich eine halbe Minute hin und hätte selbstverständlich bis heute fortgedauert, wenn nicht der Kaiser selbst es gebrochen hätte, denn ein anderer wäre nicht so wagemutig gewesen. Das war abends um halb sieben, und die frostige Atmosphäre hielt bis kurz vor Mitternacht an, als sie endlich verflog – oder vielmehr weggeschwemmt wurde von einem großzügigen Schwall Bier.
    Wie bereits angedeutet, wirtschaftete Mr. Ament sparsam

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