Meine geheime Autobiographie - Textedition
– aber sie reichte nicht, um ihn auch diesmal zu retten. Ich beobachtete sein Herannahen mit gespanntem Interesse. Er kam angeschlendert, träumte seinen angenehmen Sommertraum und zweifelte nicht daran, dass er sich in der Obhut der Vorsehung befand. Hätte er gewusst, wo ich saß, wäre sein Vertrauen in diesen Aberglauben weniger stark gewesen. Als er sich näherte, verkürzte sich seine Gestalt. Als er sich fast unter mir befand, war er so verkürzt, dass von meinem erhöhten Standort aus nichts als seine Nasenspitze und seine abwechselnd voranschreitenden Füße zu sehen waren. Da hielt ich die Wassermelone hinaus, berechnete die Entfernung und ließ sie mit der ausgehöhlten Seite nach unten fallen. Die Präzision des Geschosses konnte man gar nicht genug bewundern. Mein Bruder musste noch genau sechs Schritte gehen, als ich das Kanu losließ, und es war entzückend, zu beobachten, wie die beiden Körper einander langsam näher kamen. Hätte er noch sieben oder fünf Schritte vor sich gehabt, wäre mein Geschoss danebengegangen. Aber es war genau die richtige Anzahl Schritte, und die Schale fiel ihm mitten auf den Kopf und trieb ihn bis zum Kinn in den Erdboden. Die Stücke der zerschmetterten Wassermelone spritzten wie Gischt in alle Richtungen und zerbrachen die Fensterim zweiten Stock. Man musste eine Hebevorrichtung herbeischaffen, wie man sie zum Hieven von Gebäuden benutzt, um Henry hochzuwuchten. Ich wollte hinuntergehen und ihm mein Mitgefühl aussprechen, aber es wäre zu riskant gewesen. Er hätte mich sofort verdächtigt. Ich rechnete so oder so damit, dass er mich verdächtigen würde, doch als er sein Abenteuer zwei, drei Tage überhaupt nicht erwähnte – ich behielt ihn die ganze Zeit im Auge, um mich vor Gefahr zu schützen –, glaubte ich schon, dass er mich dieses eine Mal nicht im Verdacht hatte. Das war ein Fehler. Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit. Schließlich warf er mir einen Pflasterstein an die Schläfe, der eine so große Beule hervorrief, dass ich eine Zeitlang zwei Hüte tragen musste. Ich brachte dieses Verbrechen meiner Mutter zur Anzeige, denn ich wollte immer, dass Henry Ärger mit ihr bekäme, hatte jedoch nie Erfolg. Diesmal glaubte ich, leichtes Spiel zu haben, wenn sie nur erst einmal diese mörderische Beule sähe. Ich zeigte sie ihr, aber sie meinte, das sei nichts. Sie brauchte auch gar nicht erst nach den Umständen zu fragen. Sie wusste, dass ich die Beule verdient hatte und dass es das Beste für mich sein würde, sie als wertvolle Lektion zu akzeptieren und auf diese Weise Nutzen daraus zu ziehen.
1849 oder 1850 trennte sich Orion von der Druckerei in St. Louis, kam nach Hannibal und kaufte für fünfhundert Dollar Bares eine Wochenzeitung namens
Hannibal Journal
samt Betriebsstätte und allen ideellen Werten. Das Geld lieh er sich zu 10 Prozent Zinsen von einem alten Farmer mit Namen Johnson, der fünf Meilen vor der Stadt lebte. Anschließend reduzierte er den Abonnementspreis des Blattes von zwei auf einen Dollar. Die Anzeigenpreise reduzierte er um einen ähnlichen Anteil und schuf so die absolut unanfechtbare Gewissheit – dass dieses Geschäft niemals auch nur einen einzigen Cent Gewinn abwerfen würde. Er holte mich aus der Redaktion des
Courier
und stellte mich für dreieinhalb Dollar die Woche in seiner eigenen an, was ein extravagantes Gehalt war, aber Orion war schon immer gutherzig, schon immer großzügig gewesen – zu allen außer zu sich selbst. In meinem Fall kostete es ihn nichts, denn solange ich bei ihm war, konnte er mir nie auch nur einen Penny auszahlen. Am Ende des ersten Jahres erkannte er, dass er Einsparungen vornehmen musste. Die Büromiete war billig, aber nicht billiggenug. Er konnte sich überhaupt keine Miete leisten, also verlegte er die ganze Firma in unser Haus, so dass es mit dem Wohnraum fürchterlich eng wurde. Er hielt das Blatt vier Jahre am Laufen, aber bis heute habe ich keine Ahnung, wie er das fertigbrachte. Gegen Ende eines jeden Jahres musste er seine Taschen nach außen kehren und die fünfzig Dollar Zinsen zusammenkratzen, die er Mr. Johnson schuldete, und diese fünfzig Dollar waren vermutlich in etwa das einzige Bargeld, das er in seiner Zeit als Eigentümer dieser Zeitung je einnahm oder auszahlte, außer für Tinte und Druckpapier. Das Blatt war ein schrecklicher Misserfolg. Es war von Anfang an dazu verurteilt. Schließlich übergab er es Mr. Johnson, ging nach Muscatine, Iowa, und erwarb dort
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