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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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gutes Wörterbuch – verzeichnete keine modernen Wörter – nur veraltete, die man zu gebrauchen pflegte, als Noah Webster noch ein Kind war.
    Freitag, 30. März 1906
    Mr. Clemens’ Gespräch mit Tschaikowski und Mr. Clemens’ Ansichten zur
russischen Revolution – Mr. Clemens leitet die Tagung eines Interessenverbands
blinder Erwachsener – Seine erste Begegnung mit Helen Keller – Helen Kellers
Brief, den Mr. Clemens auf der Tagung verlas
    Ich lasse Orion für einen Moment beiseite, um später zu ihm zurückzukehren. Im Augenblick interessiere ich mich mehr für aktuelle Angelegenheiten als für meine und Orions Abenteuer vor fünfundvierzig Jahren.
    Vor drei Tagen besuchte mich eine Nachbarin zusammen mit dem gefeierten russischen Revolutionär Tschaikowski. Dieser ist grauhaarig, und man sieht sein Alter, doch in seinem Innern hat er einen Vesuv, einen noch immer mächtigen und aktiven Vulkan. Er glaubt so fest an den endgültigen und kurz bevorstehenden Triumph der Revolution und an die Vernichtung der teuflischen Autokratie, dass er mich fast dazu brachte, mit ihm zu glauben und zu hoffen. Er ist in der Erwartung herübergekommen, in unserer riesigen, achtzig Millionen glückliche und begeisterungsfähige freie Menschen zählenden Nation einen Flächenbrand edlen Mitgefühls zu entfachen. Die Ehrlichkeit gebot mir, ein wenig kaltes Wasser in seinen Krater zu gießen. Ich sagte ihm, was ich für die Wahrheit halte – nämlich dass die McKinleys, die Roosevelts und die millionenschweren Jünger Jay Goulds, jenes Mannes, der in seinem kurzen Leben die Handelsmoral dieser Nation zerrüttet und bei seinem Tod stinkend zurückgelassen hat, unser Volk aus einer Nation mit ziemlich hohen, ehrbaren Idealen in das genaue Gegenteil verwandelt haben; dass unser Volk keine beachtenswerten Ideale mehr besitzt; dass von unserem Christentum, das uns stets mit Stolz – um nicht zu sagen: mit Eitelkeit – erfüllte, nichts als eine leere Hülle geblieben ist, ein Schwindel, eineHeuchelei; dass wir unsere herkömmliche Anteilnahme für unterdrückte Völker, die um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen, eingebüßt haben; dass wir derlei Dinge, wenn wir ihnen nicht einfach kalt und gleichgültig gegenüberstehen, regelrecht verhöhnen und dass dieser Hohn so ziemlich die einzige Äußerungsform ist, deren sich Presse und Nation bedienen, wenn sie sich überhaupt mit derlei Dingen befassen; dass seine Massenversammlungen von Menschen besucht werden, die sich nicht als repräsentative Amerikaner, falls überhaupt als Amerikaner bezeichnen dürften; dass sich sein Publikum aus Ausländern zusammensetzen wird, deren Leiden zu kurz zurückliegen, als dass sie Zeit gehabt hätten, um sich amerikanisieren und die Herzen in ihrer Brust zu Stein werden zu lassen; dass seine Zuhörer aus den Reihen der Armen rekrutiert werden, nicht der Reichen; dass sie spenden werden, freigebig spenden werden, aber aus ihrer Armut heraus, und dass nicht viel Geld zusammenkommen wird. Ich sagte, dass unser geschwätziger prächtiger Präsident vor einem Jahr auf die Idee gekommen sei, sich der Welt als neuer Friedensengel anzupreisen, und sich die Aufgabe gestellt habe, zwischen Russland und Japan Frieden zu stiften, dass er das Unglück gehabt hätte, sein scheußliches Ziel zu erreichen, und dass in der ganzen Nation bis auf Dr. Seaman und mich niemand öffentlichen Protest gegen diese größte aller Torheiten einlegte. Dass ich damals glaubte, dieser verheerende Friede werde die bevorstehende Befreiung der russischen Nation von ihren jahrhundertealten Ketten auf unbestimmte Zeit hinauszögern – wahrscheinlich um Jahrhunderte; dass ich damals glaubte, Roosevelt habe der russischen Revolution den Todesstoß versetzt, und heute noch dieser Meinung bin.
    An dieser Stelle möchte ich einschieben, dass ich Dr. Seaman gestern Abend zum ersten Mal in meinem Leben begegnete und sich herausstellte, dass auch seine Meinung noch immer dieselbe ist wie damals, als jener schändliche Friede geschlossen wurde.
    Tschaikowski sagte, meine Worte bedrückten ihn zutiefst, und er hoffe, ich hätte unrecht.
    Ich erwiderte, ich hoffte es auch.
    Dann sagte er: »Vor nur zwei, drei Monaten erreichte uns aus ebendieser Ihrer Nation eine gewaltige Spende, die uns alle in Russland freute. ImHandumdrehen – sozusagen von einer Sekunde auf die andere – haben Sie zwei Millionen Dollar gesammelt und diese Spende, diese edle und großzügige Spende, an das leidende

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