Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
Vom Netzwerk:
einen kleinen Anteil an einer Wochenzeitung. Es war nicht die Art Besitz, auf dessen Grundlage man heiraten konnte – aber was soll’s. Er begegnete einem anziehenden hübschen Mädchen, das in Quincy, Illinois, wohnte, ein paar Meilen unterhalb von Keokuk, und sie verlobten sich. Er war ständig in irgendwelche Mädchen verliebt, bisher aber aufgrund des einen oder anderen Zufalls noch nie so weit gegangen, sich zu verloben. Und nun brachte es ihm nichts als Unglück, denn schnurstracks verliebte er sich in ein Mädchen aus Keokuk – zumindest bildete er sich das ein, auch wenn ich glaube, dass diese Einbildung ihr Tun war. Bevor er wusste, wie ihm geschah, war er mit ihr verlobt und steckte in einer furchtbaren Zwickmühle. Er wusste nicht, ob er die aus Keokuk oder die aus Quincy heiraten oder ob er versuchen sollte, gleich beide zu heiraten und es allen Beteiligten recht zu machen. Aber das Mädchen aus Keokuk entschied für ihn. Sie besaß Durchsetzungsvermögen und befahl ihm, dem Mädchen aus Quincy zu schreiben und die Verbindung zu beenden, und das tat er auch. Dann heiratete er das Mädchen aus Keokuk, und sie begannen einen Existenzkampf, der sich als schwieriges und aussichtsloses Unterfangen erwies.
    Sich in Muscatine seinen Lebensunterhalt zu verdienen war schlichtweg unmöglich, und so zogen Orion und seine neue Frau nach Keokuk, denn sie wollte in der Nähe ihrer Verwandten sein. Er kaufte eine kleine Akzidenzdruckerei – natürlich auf Kredit – und senkte die Preise unverzüglich so drastisch, dass nicht einmal mehr der Lebensunterhalt der Lehrlinge gesichert war, und so ging es weiter.
    Ich hatte mich der Migration nach Muscatine nicht angeschlossen. Kurz bevor sie stattfand (ich glaube, es war 1853), verschwand ich eines Nachts und flüchtete nach St. Louis. Dort arbeitete ich einige Zeit in der Setzerei der
Evening News
und begab mich dann auf Reisen, um die Welt zu sehen. Die Welt war New York City, und dort gab es eine kleine Weltausstellung. Sie war gerade an der Stelle eröffnet worden, wo sich später das große
Reservoir
befand und wo jetzt die kostspielige öffentliche Bücherei gebaut wird – Fifth Avenue, Ecke 42. Straße. Ich kam in New York mit zwei oder drei Dollar Kleingeld und einem Zehn-Dollar-Schein an, den ich in meinem Mantelfutter versteckt hatte. Gegen miserable Bezahlung fand ich Arbeit im Betrieb von John A. Gray & Green in der Cliff Street und Unterkunft in der angemessen miserablen Pension eines Handwerkers in der Duane Street. Mein wöchentliches Gehalt zahlte mir die Firma in Papiergeld dubioser Privatbanken, und es reichte eben hin, um für Kost und Logis aufzukommen. Nach einer Weile ging ich nach Philadelphia und arbeitete dort einige Monate als Vertretung beim
Inquirer
und beim
Public Ledger
.
    Schließlich machte ich eine Stippvisite in Washington, um mir die dortigen Sehenswürdigkeiten anzuschauen, und 1854 reiste ich, zwei oder drei Tage und Nächte im Raucherwaggon aufrecht sitzend, zurück ins Tal des Mississippi. Als ich St. Louis erreichte, war ich erschöpft. An Bord eines Schaufelraddampfers, der in Richtung Muscatine fuhr, ging ich zu Bett. Zur Gänze bekleidet schlief ich sofort ein und wachte erst sechsunddreißig Stunden später auf.
    In der kleinen Druckerei in Keokuk hatte ich zwei volle Jahre gearbeitet, und zwar, das sollte ich hinzufügen, ohne je einen Cent Gehalt zu beziehen, denn Orion war nicht in der Lage, auch nur irgendetwas zu zahlen – aber Dick Higham und ich hatten unseren Spaß. Was Dick bekam, weiß ich nicht, wahrscheinlich nichts als uneinlösbare Versprechen.
    Eines Tages mitten im Winter 1856 oder 1857 – ich glaube, es war 1856 – ging ich vormittags die Hauptstraße von Keokuk entlang. Es war bitterkalt – so kalt, dass die Straße fast menschenleer war. Ein leichter trockener Schnee wehte hier und da über Fahrbahn und Gehweg, wirbelte in diese Richtung und in jene und vollführte allerlei hübsche Pirouetten, war aber sehr frostig anzusehen. Der Wind blies ein Stück Papier an mir vorüber, das an einerHauswand klebenblieb. Etwas daran erregte meine Aufmerksamkeit, und ich klaubte es auf. Es war ein Fünfzig-Dollar-Schein, der erste, den ich bis dato zu Gesicht bekommen hatte, und der größte Batzen Geld, auf den ich bis dato gestoßen war. Ich setzte eine Annonce in die Zeitung, und in den nächsten Tagen stand ich Sorge, Angst und Kummer im Wert von mehr als tausend Dollar aus, der Besitzer könnte die Anzeige

Weitere Kostenlose Bücher