Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
Vom Netzwerk:
ihren Wohlstand sichern und vermehren. Im Staat New York leben sechstausend registrierte Blinde, dazu kommen etwa tausend, die nicht ausfindig gemacht und registriert wurden. Es gibt zwischen drei- und vierhundert blinde Kinder. Auf diese beschränkt der Staat seine Wohltätigkeit. Ihnen erteilt er Schulunterricht. Er lehrt sie lesen und schreiben. Er bietet ihnen Nahrung und Obdach. Und natürlich lässt er sie verarmen, denn er gibt ihnen keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das Verhalten des Staates gegenüber den erwachsenen Blinden – und dieses Verhalten wird von den Gesetzgebern der meisten anderen Staaten imitiert – ist eine wahre Schande. Außerhalb der Blindenheime hat ein erwachsener Blinder es schwer. Ist er ohne Verwandte, die ihn unterstützen können, lebt er nur von den Almosen Barmherziger – und hin und wieder streckt der Staat als Zeichen seiner Wohltätigkeit seine gemeinnützige Hand aus, trägt ihn hinüber in die große Anstalt Blackwell’s Island und setzt ihn dort einer vielköpfigen Bevölkerung von Dieben und Prostituierten aus.
    In Massachusetts dagegen, in Pennsylvania und zwei, drei anderen Staaten sind Verbände wie der soeben neugegründete schon seit Jahren tätig, sie finanzieren sich ausschließlich durch private Mitgliedsbeiträge, und die dort durchgesetzten Verbesserungen und die geleistete Arbeit sind so bemerkenswert und großartig, dass sich ihre offiziellen Berichte wie ein Märchen lesen. Es scheint so gut wie bewiesen, dass ein mit Sehkraft gesegneter Menschnicht viele Dinge zu erreichen in der Lage ist, die nicht auch ein Blinder erlernen und ebenso gut bewerkstelligen kann.
    Helen Keller sollte gestern Abend auftreten, doch liegt sie schon seit mehreren Wochen krank im Bett, weil sie sich im Interesse der Blinden, Tauben und Stummen überanstrengt hat. Ich brauche auf Helen Keller nicht näher einzugehen. Sie gehört in eine Reihe mit Cäsar, Alexander, Napoleon, Homer, Shakespeare und den anderen Unsterblichen. In tausend Jahren wird sie noch genauso berühmt sein wie heute.
    Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich die Ehre hatte, ihr zu begegnen. Damals war sie vierzehn Jahre alt. An einem Sonntagnachmittag wurde sie im Haus von Laurence Hutton erwartet, und zwölf oder fünfzehn Männer und Frauen waren geladen worden, um sie kennenzulernen. Henry Rogers und ich gingen gemeinsam hin. Die Gesellschaft war vollzählig und wartete schon eine Weile. Dann kam das hinreißende Kind zusammen mit seiner ebenso hinreißenden Lehrerin Miss Sullivan herein. Das Mädchen stieß in seiner gebrochenen Sprache freudige Rufe aus. Ohne etwas zu berühren und selbstverständlich ohne etwas zu sehen oder zu hören, schien sie die Beschaffenheit ihrer Umgebung doch recht gut zu erfassen. »Oh, die Bücher, die Bücher, so viele, viele Bücher«, sagte sie. »Wie hübsch!«
    Die Gäste wurden nacheinander zu ihr geführt und ihr vorgestellt. Jedes Mal, wenn sie jemandem die Hand geschüttelt hatte, zog sie ihre Hand weg, hielt die Finger leicht an Miss Sullivans Lippen, und diese sprach den Namen der Person. War ein Name schwierig, sprach ihn Miss Sullivan nicht nur gegen Helens Finger, sondern buchstabierte ihn mit ihren eigenen Fingern auf Helens Handfläche – offenbar in einer Art Kurzschrift, wie die Schnelligkeit des Vorgangs vermuten ließ.
    Mr. Howells setzte sich neben Helen aufs Sofa, sie legte die Finger an seine Lippen, und er erzählte ihr eine Geschichte von beträchtlicher Länge, und man konnte sehen, wie jedes Detail in ihr Gemüt drang, wo es ein Feuer entfachte, dessen Widerschein sich auf ihrem Gesicht zeigte. Daraufhin erzählte ich ihr eine lange Geschichte, die sie immerzu und an den richtigen Stellen durch Gegacker, Gekicher und unbekümmertes Gelächter unterbrach. Dann legte Miss Sullivan eine von Helens Händen an ihre Lippenund formulierte die Frage: »Wofür ist Mr. Clemens bekannt?« Helen antwortete in ihrer gebrochenen Sprache: »Für seinen Humor.« Ich fügte bescheiden hinzu: »Und für seine Weisheit.« Im gleichen Augenblick sprach Helen dieselben Worte – »Und für seine Weisheit.« Es muss ein Fall mentaler Telegraphie gewesen sein, da sie unmöglich wissen konnte, was ich gesagt hatte.
    Nachdem wir einige sehr angenehme Stunden verbracht hatten, fragte jemand, ob sich Helen nach dieser ganzen Zeit noch erinnern könne, wie sich die Hände der versammelten Gesellschaft anfühlten, und ob sie sie auseinanderhalten

Weitere Kostenlose Bücher