Meine geheime Autobiographie - Textedition
und die Namen ihrer Besitzer nennen könne. »Ach, das wird ihr keine Schwierigkeiten bereiten«, sagte Miss Sullivan. Und so marschierten die Versammelten auf, gaben ihr einer nach dem anderen die Hand, und bei jedem Handschlag grüßte Helen den Besitzer der Hand freundlich und sagte, ohne zu zögern, den dazugehörigen Namen, bis sie gegen Ende der Prozession auf Mr. Rogers traf. Sie reichte ihm die Hand, hielt inne, und ein nachdenklicher Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Dann sagte sie: »Freut mich, Sie kennenzulernen, wir sind uns noch nicht begegnet.« Miss Sullivan sagte ihr, sie täusche sich, der Gentleman sei ihr bereits beim Betreten des Zimmers vorgestellt worden. Aber Helen ließ sich nicht beirren. Nein, sagte sie, sie sei dem Gentleman noch nie zuvor begegnet. Da meinte Mr. Rogers, vielleicht rühre die Verwirrung daher, dass er, als er Helen vorgestellt worden sei, Handschuhe getragen habe. Das erklärte die Sache natürlich.
Aber es war gar nicht am Nachmittag, wie ich fälschlicherweise angegeben habe. Es war am Vormittag, und nach und nach begab sich die Versammlung ins Speisezimmer und setzte sich zum Mittagessen. Ich musste vorzeitig aufbrechen, und als ich an Helen vorbeiging, strich ich ihr leicht über den Kopf und ging weiter. Miss Sullivan rief mir nach: »Warten Sie, Mr. Clemens, Helen ist bekümmert, weil sie Ihre Hand nicht erkannt hat. Wollen Sie nicht zurückkommen und die Geste wiederholen?« Ich machte kehrt und strich ihr leicht über den Kopf, und sofort sagte sie: »Ah, es ist Mr. Clemens.«
Vielleicht kann jemand dieses Wunder erklären, ich habe es nie vermocht. Konnte sie etwa durch ihr Haar hindurch die Falten meiner Hand fühlen? Diese Frage muss ein anderer beantworten. Ich bin dazu nicht imstande.
Wie bereits gesagt, Helen konnte ihr Krankenlager nicht verlassen, schrieb aber vor zwei, drei Tagen einen Brief, der auf der Tagung verlesen werden sollte, und den ließ mir Miss Holt, die Sekretärin, gestern Nachmittag durch einen Boten zukommen. Zum Glück hatte sie ihn nicht zurückbehalten und mir etwa erst gestern Abend auf dem Podium gereicht, denn in diesem Falle hätte ich meine Aufgabe nicht vollständig ausführen können. Ich glaube, ich verlas den Brief, ohne dass meine Stimme brach oder auch nur merklich zitterte. Aber das lag daran, dass ich ihn am Nachmittag Miss Lyon vorgelesen hatte, insofern kannte ich die gefährlichen Klippen und konnte mich entsprechend vorbereiten. Gleich zu Beginn erzählte ich dem Publikum von dem Brief und sagte, ich würde ihn zum Abschluss des Abends vorlesen. Als der Abend zu Ende ging und Mr. Choate gesprochen hatte, führte ich den Brief mit einigen wenigen Worten ein. Ich sagte, sofern ich überhaupt etwas von Literatur verstünde, so hätten wir es hier mit einem ausgezeichneten und großartigen und edlen Musterexemplar zu tun; der Brief sei schlicht, direkt, ungeschönt, ungekünstelt, unprätentiös, sei ergreifend, schön und wortgewandt; nichts Vergleichbares sei über die Lippen eines Mädchens gekommen, seit Jeanne d’Arc, dieses unsterbliche Kind von siebzehn Jahren, ihren Richtern – der geballten Gelehrsamkeit und Intelligenz Frankreichs – vor fünf Jahrhunderten allein und ohne Freunde in Ketten gegenüberstand und Woche für Woche, Tag für Tag mit ihnen stritt, ihnen mit ihrem großen Herzen und ihrem ungebildeten, aber herrlichen Verstand widersprach und sie jedes Mal besiegte, nie das Schlachtfeld räumte und bei Sonnenuntergang immer dessen Herrin war. Ich sagte, dieser Brief einer jungen Frau, die seit dem achtzehnten Lebensmonat taub, stumm und blind und dabei eine der am umfassendsten und gründlichsten gebildeten Frauen der Welt sei, werde als Klassiker in unsere Literatur eingehen und nicht vergessen werden. Ich füge den Brief hier ein.
Wrentham, Mass., 27. März 1906
Mein lieber Mr. Clemens,
es ist eine große Enttäuschung für mich, dass ich nicht bei Ihnen und den anderen Freunden weilen kann, die ihre Kräfte zusammengetan haben, um die Lage der Blinden zu verbessern. Die Tagung in New York wird das größte Ereignis einerBewegung sein, die seit langem mein Herz berührt, und ich bedaure zutiefst, nicht daran teilnehmen und die Inspiration des direkten Kontaktes mit einer solchen Ansammlung von Scharfsinn, Weisheit und Philanthropie miterleben zu können. Ich hätte mich so gefreut, mir Ihre Worte, noch während sie Ihnen über die Lippen kommen, auf die Handfläche buchstabieren zu lassen und
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