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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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so die Beredsamkeit unseres neuesten Botschafters für die Blinden unmittelbar in mir aufzunehmen. Nie zuvor hatten wir solche Fürsprecher. Meine Enttäuschung wird durch den Gedanken gemildert, dass man bei dieser Tagung wie bei keiner zuvor davon ausgehen darf, dass die richtigen Worte gesprochen werden. So überflüssig jeder weitere Appell erscheinen muss, nachdem Sie und Mr. Choate gesprochen haben, kann ich als Frau doch nicht schweigen, und ich bitte Sie, diesen Brief zu verlesen, in der Gewissheit, dass Ihre gütige Stimme ihm Beredsamkeit verleihen wird.
    Um die Bedürfnisse eines Blinden zu verstehen, müssen Sie, die Sie sehen können, sich vorstellen, wie es wäre, nicht zu sehen, und diese Vorstellung wird lebhafter, wenn Sie bedenken, dass vielleicht auch Sie den dunklen Weg vor dem Ende Ihrer Lebensreise allein beschreiten müssen. Versuchen Sie sich vorzustellen, was Blindheit für diejenigen bedeutet, deren freudiger Tatendrang zu Untätigkeit verdammt ist.
    Es bedeutet, lange, lange Tage zu leben, und das Leben besteht aus Tagen. Es bedeutet, eingemauert, ratlos und ohnmächtig zu leben, und Gottes ganze Welt ist ausgesperrt. Es bedeutet, hilflos und betrogen dazusitzen, während der Geist an seinen Fesseln zieht und zerrt und die Schultern sich nach der Last sehnen, die ihnen verwehrt wird, nach der rechtmäßigen Last der Arbeit.
    Der Sehende erledigt seine Geschäfte zuversichtlich und selbständig. Er verrichtet seinen Anteil an der Arbeit der Welt im Bergwerk, im Steinbruch, in der Fabrik, im Kontor und bittet andere nicht um milde Gaben, sondern lediglich um die Möglichkeit, diesen Anteil übernehmen zu dürfen und seinen Lohn dafür zu erhalten. Durch einen Unfall verliert er von einem Moment zum anderen sein Augenlicht. Der Tag verdüstert sich. Nacht umhüllt die sichtbare Welt. Die Füße, die ihn früher einmal festen, sicheren Schrittes zu seiner Aufgabe trugen, sie stolpern, halten inne, fürchten jeden Schritt. Eine neue Gewohnheit wird ihm aufgezwungen, die des Müßiggangs, der wie ein Krebsgeschwür den Verstand frisst und dessen großartige Fähigkeiten zerstört. Die Erinnerung konfrontiert ihn mit seiner hell erleuchtetenVergangenheit. Zwischen den greifbaren Ruinen des Lebens, wie es zu sein versprach, ertastet er sich seinen erbärmlichen Weg. Auf Ihren verkehrsreichen Durchgangsstraßen sind Sie ihm schon begegnet, mit seinen zögerlichen Schritten und ausgestreckten Händen »gräbt« er sich geduldig durch das allumfassende Dunkel, bietet Ihnen Kurzwaren feil oder hält Ihnen seine Mütze für Pennys entgegen; und dies war einmal ein Mann mit Träumen und mit Fähigkeiten.
    Und weil wir wissen, dass sich diese Träume und Fähigkeiten erfüllen können, arbeiten wir daran, die Lebensbedingungen erwachsener Blinder zu verbessern. Man kann leeren Augen das Licht nicht wiedergeben; aber man kann Menschen ohne Sehkraft auf ihrer dunklen Pilgerreise eine helfende Hand reichen. Man kann sie neue Fähigkeiten lehren. Arbeit, die sie einst mit Hilfe ihrer Augen verrichteten, kann man durch Arbeit ersetzen, die sie mit den Händen verrichten können. Sie möchten nur eine Chance, denn eine Chance ist eine Fackel in der Finsternis. Sie bitten nicht um Almosen, nicht um Behindertenrente, sondern um die Genugtuung einträglicher Arbeit, und diese Genugtuung ist das Recht eines jeden Menschen.
    Auf Ihrer Tagung wird New York für die Blinden sprechen, und wenn New York spricht, hört die Welt zu. Die wahre Botschaft New Yorks ist nicht das profitorientierte Tickern der Telegraphen, sondern die machtvolleren Äußerungen auf Versammlungen wie der Ihren. Seit einiger Zeit sind unsere Zeitschriften angefüllt mit bedrückenden Enthüllungen großer sozialer Missstände. Unzufriedene Kritiker haben auf jede Schwachstelle unserer bürgerlichen Ordnung hingewiesen. Wir haben den Pessimisten lange genug gelauscht. Einmal haben Sie mir gesagt, Sie seien ein Pessimist, Mr. Clemens, aber große Männer schätzen sich meist falsch ein. Sie sind ein Optimist. Wenn Sie das nicht wären, würden Sie unserer Tagung nicht vorsitzen. Denn das ist eine Antwort auf den Pessimismus. Sie verkündet, dass Mut und Weisheit einer großen Stadt dem Wohl der Menschheit gewidmet sind, dass in dieser geschäftigsten Stadt der Welt kein Verzweiflungsschrei aufsteigt, der nicht eine mitfühlende, wohlwollende Antwort erhielte. Freuen Sie sich, dass das Anliegen der Blinden heute in New York gehört wurde, denn von

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