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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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fährt weiter und immer, immer weiter und fragt sich, wo eigentlich St. John’s Wood bleibt und ob man jemals in diesen Wald aus Ziegeln und Mörtel gelangen wird; und irgendwann nimmt man all seinen Mut zusammen und fragt einen Fahrgast, wo in etwa man sich befindet, und er antwortet: »Wir fahren gerade in Sloane Square Station ein.« Man dankt ihm und schaut befriedigt drein, so befriedigt, wie man es spontan und ohne ausreichende Vorbereitung zuwege bringt, steigt aus und sagt: »Das ist meine Station.« Und genau so ist es. Von hier ist man abgefahren. Das war vor einer oder anderthalb Stunden, und inzwischen ist schon fast Schlafenszeit. Die ganze Zeit ist man durch Tunnel geirrt, hat sich unter London in seinen Eingeweiden aufgehalten und mit einer Fahrkarte dritter Klasse in Wagen erster, zweiter und dritter Klasse gesessen und Kontakt mit allen möglichen Gesellschaftsschichten gehabt, von Herzögen und Bischöfen bis hinunter zu übelriechenden, räudigen Stadtstreichern und Großmäulern, die mit ihren betrunkenen Flittchen auf dem Schoß dasaßen und sie schamlos kosten und küssten. Man hat das Abendessen verpasst, zu dem man wollte, aber man ist noch am Leben, und das ist immerhin etwas; und man hat gelernt, lieber keine Tunnel mehr zu durchfahren, und auch das ist ein Gewinn. Man kann den Freund nicht anrufen, um ihm zu sagen, er möge zu Bett gehen und mit dem Abendessen nicht länger warten. Im Umkreis von einer Meile gibt es kein Telefon, weder bei mir noch bei ihm. Vor Jahren existierte in England ein Fernsprechnetz, aber auf dem Land ist es so gut wie tot, und was in London davon übriggeblieben ist, hat keinen Wert. Also schickt man seinem Freund ein Telegramm, um ihm mitzuteilen, man habe einen Unfall gehabt, und ihn zu bitten, mit dem Abendessen nicht länger zu warten. Man weiß, dass sämtliche Telegraphenämter in seiner Nachbarschaft um acht Uhr abends schließen und es schon zehn ist; und es ist Samstagnacht, und England heiligt den Sonntag; das Telegramm wird ihm also am Montagmorgen zugestellt werden, und wenn er abends um fünf von der Arbeit nach Hause kommt, wird er wissen, dass man am Samstagabend nicht gekommen ist und warum.
    Ein winziges Grüppchen von Häusern in London, ein winziger Fleck, das ist der Mittelpunkt des Erdballs, sein Herz, und dort befindet sich die Maschinerie, die die Welt in Gang hält. Es heißt die City, und mit ihren Flicken von angrenzenden Bezirken
ist
es tatsächlich eine City. Aber das übrige London ist keine Stadt. London, das sind fünfzig Dörfer, die sich auf einem riesigen Territorium fest zusammenballen. Jedes Dorf hat einen eigenen Namen und eine eigene Regierung. Seine Bräuche sind Dorfbräuche, und die große Masse seiner Einwohner sind schlichtweg Dörfler und haben das einfache, ehrliche, weltfremde Aussehen nicht weit gereister Dörfler. Die Geschäfte sind Dorfgeschäfte; kleine beengte Krämerläden, wo Sie einen Amboss oder ein Briefchen Nadeln oder irgendetwas dazwischen kaufen können; doch nirgendwo können Sie zwei Ambosse oder fünf Briefchen Nadeln oder sieben weiße Krawatten oder zwei Hüte derselben Machart erstehen, weil man solche großen Mengen nicht vorrätig hat. Der Krämer wird sich auch nicht anerbieten, die Artikel zu bestellen und Ihnen schicken zu lassen, sondern Ihnen sagen, wo Sie sie seiner Meinung nach finden können. Und er ist nicht etwa schroff und kleinlich und unfreundlich wie ein Städter, sondern nimmt sich der Sache arglos und liebenswürdig wie ein Dörfler an und wird sie mit Ihnen erörtern, solange Sie wollen. Die Leute dort haben keine abscheulichen städtischen Gewohnheiten, ja überhaupt keine Gewohnheiten, die darauf schließen lassen, dass sie jemals in einer Stadt gelebt haben.
    In meinem Dorf gibt es eine Menge kleiner Postämter und ein großes – am Sloane Square. Eines Samstags gegen Abend suchte ich drei der kleineren auf und erkundigte mich, ob es sonntags einen Postdienst nach Paris gebe und falls ja, bis wann ich meinen Brief spätestens aufgeben müsse, damit er noch weggeht. Niemand wusste, ob es solch einen Postdienst nach Paris gab oder nicht, aber man glaubte schon. Auf eine Posttabelle konnte man nicht verweisen, denn es gab keine. Ob man beim Hauptpostamt anrufen und die Sache für mich klären könne? Nein, es gebe kein Telefon. Vielleicht wisse ja das große Postamt am Sloane Square Bescheid. Ich ging hin. Dienst taten zwei oder drei Mädchen und ein, zwei Frauen. Ja, es gebe

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