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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Post nach Paris, sagten sie; sie glaubten schon, allerdings wüssten sie nicht wann. Ob meine Fragen ihrer Erfahrung nach ungewöhnlich seien? Sie konnten sich nichtdaran erinnern, dass jemand schon einmal danach gefragt hätte. Und diese Leute wirkten
so
freundlich und unschuldig und kindlich und unwissend und glücklich und zufrieden.
    Neun Monate lebte ich in diesem Dorf. Jeden Tag erhielt ich zusammen mit meiner eigenen Post die meines Vormieters. Er hatte beim Postamt seine neue Anschrift hinterlegt, aber das nützte wenig oder nichts. Die Briefe gingen an mich. Hin und wieder instruierte ich den Briefträger; dann erhielt ich eine ganze Woche lang nur meine eigene Post; danach bekam ich wieder doppelt Post, genau wie vorher.
    Aber zum Leben war das Dorf angenehm. Überall waltete der Geist des Entgegenkommens, so wie er es in Deutschland, aber nur in wenigen anderen Teilen der Erde tut. Einmal ging ich aufs nächstgelegene Postamt, um ein Telegramm aufzugeben. Das Postamt war Teil eines kleinen Lädchens, das diverse Handelsartikel im Wert von dreißig Dollar feilbot, und den Dienst versah eine junge Frau. Ich hatte es eilig. Ich setzte das Telegramm auf, die junge Frau prüfte den Text und sagte, sie fürchte, es werde seinen Bestimmungsort wohl nicht erreichen. Vielleicht lag es an der Anschrift – ich weiß nicht mehr, was das Problem war. Sie wollte ihren Mann holen und ihn um Rat fragen. Ich erklärte, dass ich lediglich bestimmten Anweisungen folgte und der Mann am anderen Ende selbst schuld daran sei, wenn er das Telegramm nicht bekäme. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie warnte mich, es sei die reinste Geldverschwendung und ich der Verlierer. Sie wolle lieber ihren Mann holen, damit er sich der Sache annehme. Sie wollte es so und nicht anders; ich konnte mich nicht wehren; ihr freundliches Interesse entwaffnete mich, und ich konnte nicht losplatzen und sagen: »Ach, schicken Sie’s einfach ab, wie’s ist, und lassen Sie mich gehen.« Sie brachte ihren Mann herbei, und die beiden beratschlagten ausgiebig und lösten schließlich das Problem zu ihrer Zufriedenheit. Aber ich durfte immer noch nicht gehen. Eine neue Schwierigkeit ergab sich. Offenbar enthielt das Telegramm mehr Wörter als erforderlich, und wenn ich ein, zwei Wörter streichen würde, kostete mich das Telegramm nur sechs Pence. Ich wollte schon sagen, ich würde lieber vier Pence mehr zahlen, als für drei Shilling Zeit zu verlieren, aber es wäre schade gewesen, sich so zu benehmen, da sie doch nurihr Bestes taten, mir eine Gefälligkeit zu erweisen, also sagte ich nichts, sondern beherrschte mich und ließ die ruinöse Zeitvergeudung ihren Fortgang nehmen. Nach einiger Zeit gelang es uns gemeinsam, das Telegramm um einige seiner notwendigsten Wörter zu entschlacken, danach war ich frei, zahlte meine sechs Pence und konnte mich wieder meiner Arbeit widmen; ich wäre froh, die angenehme Erfahrung zu wiederholen, selbst wenn es mich halb so viel Zeit und doppelt so viel Geld kosten würde. Dies war eine Londoner Episode. Ich versuche mir dergleichen auf einem New York Telegraphenamt vorzustellen, aber an Vorstellungskraft scheint es mir heute zu mangeln.

    Der Londoner Omnibuskutscher wirkt nicht wie ein Städter, sondern wie ein seliger Engel vom Land. Oft ist er flott gekleidet und ordentlich rasiert, und ebenso oft ist das Gegenteil der Fall; beide Male aber ist er ein hochfeiner Mann und zufriedenstellend. Er hat kein hartes Stadtgesicht und auch keine mürrischen und abweisenden Stadtgewohnheiten, ja überhaupt nichts, was man – mit jenem Beiwort, das die Abwesenheit aller Spiritualität und die Anwesenheit eines armseligen Materialismus, eines albernen Zynismus, kleinlicher Ideale und kleinlicher Eitelkeiten suggeriert – »verstädtert« nennen könnte. Er ist ein angenehmer, höflicher und geselliger Zeitgenosse, freundlich und gesprächig, hat eine gelassene und würdevolle Art, die ihmgut zu Gesicht steht, und lenkt seinen Omnibus hoch über dem Gewühl und Getümmel von London so ungestört und unbesorgt, als nehme er gar nicht wahr, was um ihn vorgeht. Der kostbarste Teil des Busses ist das Dach; und die kostbarsten Plätze auf dem Dach sind die beiden Sitze hinter den Ellbogen des Kutschers. Die Fahrgäste auf diesen Sitzen unterhalten sich ohne Unterlass mit ihm. Das zeigt, dass er ein höflicher Mensch ist und interessant. Und es zeigt, dass er in seinem Herzen ein Dorfbewohner ist und die Schlichtheit,

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