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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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verharrte ich in dieser Position, um mich eine Minute auszuruhen. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann fragte Sandy mit aufgeregtem Interesse:
    »Massa Sam, schon mal ’n gedörrten Hering gesehn?«
    »Nein. Was ist das?«
    »Is ’n Fisch.«
    »Ja und? Was ist daran so besonders?«
    »Ja, Sir, und ob!
Die fressense mit allem Drum ’n Dran!
«
    Hinter dem Wandschirm war ein unterdrückter Anfall weiblichen Gekichers zu hören! Alle Kraft verließ mich, wie ein unterhöhlter Turm geriet ich ins Wanken, stieß mit meinem Gewicht den Wandschirm um und begrub die jungen Damen unter ihm. In ihrer Angst stießen sie zwei, drei durchdringende Schreie aus – vielleicht auch mehr, aber ich wartete nicht, um sie zu zählen. Ich raffte meine Kleider zusammen und floh, Sandy im Gefolge, nach unten in die düstere Halle. Binnen einer halben Minute war ich angezogen und zur Hintertür hinaus. Ich schwor Sandy auf ewiges Stillschweigen ein, dann gingen wir fort und versteckten uns, bis das Fest vorüber war. Jeglicher Ehrgeiz war von mir abgefallen. Nach meinem Abenteuer hätte ich der leichtfertigen Gesellschaft nicht ins Auge sehen können, denn es würde zwei Darstellerinnen geben, die mein Geheimnis kannten und sich innerlich die ganze Zeit über mich lustig machen würden. Man suchte nach mir, fand mich aber nicht, und der Bär musste von einem jungen Gentleman in Zivilkleidern gegeben werden. Als ich mich endlich nach Hause getraute, war es still, alles schlief. Mein Herz war schwer, und ich hatte ein bitteres Gefühl der Blamage. An mein Kopfkissen fand ich einen Zettel geheftet; auf ihm stand eine Zeile, die mein Gemüt nicht etwa aufhellte, sondern mir die Schamröte ins Gesicht trieb. Sie war in einer kunstvoll verstellten Handschrift abgefasst, und die spöttischen Worte lauteten: »Eine
Bären haut
hättest du uns vermutlich nicht vorführen können
,
deine
bare Haut
aber sehr gut – oh, sehr, sehr gut!«Wir denken immer, Knaben seien rohe, gefühllose Tiere, aber das ist nicht immer der Fall. Jeder Knabe hat ein oder zwei empfindliche Stellen, und wenn man herausfindet, wo sie sich befinden, braucht man sie nur zu berühren und kann ihn versengen wie mit Feuer. Ich litt elendiglich unter dieser Episode. Ich erwartete, dass die Umstände sich bis zum nächsten Morgen im ganzen Dorf herumgesprochen hätten, aber dem war nicht so. Das Geheimnis blieb auf die beiden Mädchen, Sandy und mich beschränkt. Das linderte meine Pein ein wenig, aber bei weitem nicht hinreichend – meine Hauptsorge blieb: Ich war zwei spöttischen Augenpaaren ausgesetzt gewesen, aber ebenso gut hätten es tausend sein können, denn ich hatte die Augenpaare aller Mädchen in Verdacht, diejenigen gewesen zu sein, vor denen mir so bange war. Mehrere Wochen lang konnte ich keiner jungen Dame ins Gesicht sehen; wenn eine von ihnen lächelnd grüßte, senkte ich verwirrt den Blick, sagte bei mir selbst:
»Das ist eine von ihnen«
, und machte, dass ich wegkam. Den richtigen Mädchen begegnete ich natürlich überall, aber falls sie je ein verräterisches Signal aussandten, war ich nicht aufgeweckt genug, um es aufzufangen. Als ich Hannibal vier Jahre später verließ, war das Geheimnis noch immer nicht gelüftet; ich hatte die Mädchen nicht erraten können und rechnete auch nicht länger damit. So richtig wollte ich es auch gar nicht. Eines der liebsten und hübschesten Mädchen im Dorf zur Zeit meines Missgeschicks war eines, das ich Mary Wilson nennen werde, weil es nicht ihr Name war. Sie war zwanzig Jahre alt, zierlich und bezaubernd, pfirsichblütig und exquisit, anmutig und von angenehmem Charakter, und ich hatte geradezu Ehrfurcht vor ihr, denn sie schien aus dem Lehm gemacht, aus dem die Engel sind, und zu Recht unerreichbar für einen ruchlosen gewöhnlichen Jungen wie mich.
Sie
hatte ich wahrscheinlich nie in Verdacht
.
Aber – Szenenwechsel. Kalkutta – siebenundvierzig Jahre später. 1896. Ich traf zu einer Vortragsreise ein. Und als ich das Hotel betrat, kam mir eine göttliche Erscheinung entgegen, eingehüllt in die Herrlichkeit indischen Sonnenlichts – die Mary Wilson meiner längst entschwundenen Jugend! Ein erstaunliches Begebnis. Bevor ich mich von dem verwirrenden Schreck erholen und sie ansprechen konnte, war sie fort. Ich glaubte schon, ein Phantom gesehen zu haben, aber nein, sie war aus Fleisch und Blut. Es war die Enkelin jener anderen Mary, der ursprünglichenMary. Jene andere Mary, inzwischen verwitwet, war

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