Meine geheime Autobiographie - Textedition
oben und bestellte mich augenblicklich zu sich. Sie war alt und grauhaarig, wirkte aber jung und sehr schön. Wir setzten uns und redeten miteinander. Wir tauchten unsere durstigen Seelen in den belebenden Wein der Vergangenheit, der rührenden Vergangenheit, der wunderbaren Vergangenheit, der teuren und betrauerten Vergangenheit; wir sprachen die Namen aus, die fünfzig Jahre lang stumm auf unseren Lippen gelegen hatten, und es war, als seien sie aus Musik gemacht; mit andächtigen Händen gruben wir unsere Toten, die Spielgefährten unserer Jugend, aus und liebkosten sie mit unseren Worten; wir durchforschten die staubigen Kammern unseres Gedächtnisses, zogen Vorfall um Vorfall, Episode um Episode, Torheit um Torheit ans Licht und vergossen Lachtränen darüber; und schließlich sagte Mary unvermittelt, ohne jede Einführung:
»Sag mal, was ist denn nun so besonders an gedörrtem Heringen?«
Es schien eine merkwürdige Frage in einem so geheiligten Moment. Und noch dazu so belanglos. Ich war leicht schockiert. Und doch merkte ich, wie sich irgendwo in den Tiefen meines Gedächtnisses etwas regte. Es brachte mich zum Nachdenken – zum Grübeln – zum Suchen. Gedörrte Heringe. Gedörrte Heringe. Das Besondere an ged… Ich blickte auf. Ihr Gesicht war ernst, in ihren Augen jedoch ein schwaches, kaum wahrnehmbares Funkeln, das – Plötzlich wusste ich Bescheid!, und aus ferner, uralter Vergangenheit hörte ich eine Stimme murmeln:
»Die fressense mit allem Drum ’n Dran!«
»Endlich! Jetzt habe ich wenigstens eine von euch überführt! Wer war das andere Mädchen?« Aber da zog sie die Grenze. Sie wollte es mir nicht verraten.
Doch das Leben eines Knaben besteht nicht nur aus Komödien; auch viel Tragisches hält darin Einzug. Der betrunkene Landstreicher – erwähnt in
Tom
Sawyer
oder
Huckleberry Finn
–, der im Dorfgefängnis verbrannte, lastete noch hundert Nächte später auf meinem Gewissen und füllte sie mit grässlichen Alpträumen – Alpträumen, in denen ich sein flehendes Gesicht vor mir sah, so wie ich es in der grauenhaften Wirklichkeit gesehen hatte, gegen die Gitterstäbe gepresst, dahinter die rot glühende Hölle – ein Gesicht, das mir zu sagen schien: »Hättest du mir nicht die Streichhölzer gegeben, wäre das hier nicht passiert; du bist für meinen Tod verantwortlich.« Ich war
nicht
dafür verantwortlich,denn ich hatte es ja nicht böse, sondern nur gut mit ihm gemeint, als ich ihm die Streichhölzer gab; aber es half nichts, mein presbyterianisches Gewissen war voll ausgebildet und kannte nur eine Pflicht – seinen Sklaven unter jedem Vorwand und bei jedem Anlass zu jagen und zu hetzen, besonders wenn kein vernünftiger Grund vorlag. Der Landstreicher – der die Schuld hatte – litt zehn Minuten lang; ich, der ich keine Schuld hatte, litt drei Monate lang.
Die Erschießung des armen alten Smarr zur Mittagszeit in der Hauptstraße 33 sorgte für weitere Alpträume; und in diesen sah ich immer wieder das groteske Schlussbild vor mir – die aufgeschlagene große Familienbibel, die irgendein aufmerksamer Idiot dem gottlosen alten Mann auf die Brust gelegt hatte und die sich nun mit seinem mühsamen Atem hob und senkte und seinem Todeskampf die Tortur ihres bleiernen Gewichts hinzufügte. Wir sind sonderbar beschaffen. In der Menge der mitfühlend gaffenden Schaulustigen gab es nicht einen, der genügend gesunden Menschenverstand besaß, um zu erkennen, dass ein Amboss geschmackvoller gewesen wäre als die Bibel, weniger anfällig für sarkastische Kritik und rascher in seinem grausamen Werk. Unter der drückenden Last dieses riesigen Folianten rang ich in meinen Alpträumen viele Nächte lang keuchend um Atem.
Im Laufe zweier Jahre erlebten wir noch zwei, drei Tragödien, und ich hatte das Pech, immer in unmittelbarer Nähe dabei gewesen zu sein. Da war der Sklave, der wegen eines geringfügigen Vergehens mit einem Stück Schlacke niedergeschlagen wurde; ich sah ihn sterben. Und der junge kalifornische Emigrant, der von einem betrunkenen Kameraden mit einem Jagdmesser erstochen wurde; ich sah das rote Leben aus seiner Brust entweichen. Und der Fall der gewalttätigen jungen Brüder Hyde und ihres harmlosen alten Onkels: Einer von ihnen hielt den Alten nieder, das Knie auf seine Brust gestemmt, während der andere wiederholt versuchte, ihn mit einem Allen-Revolver zu erschießen, der jedes Mal versagte. Natürlich war ich es, der zufällig des Weges kommen musste.
Dann war
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