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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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der Rest der Menschheit gewesen bin – nachts nie so recht zurechnungsfähig. Als Indianer Joe starb … 35 Aber vergessen wir das: In einem früheren Kapitel habe ich bereits geschildert, welch tosende Hölle der Reue ich damals durchmachte. Ich glaube, monatelang war ich rein wie Schnee. Nach Einbruch der Dunkelheit.
    In jenen entlegenen Tagen – 1848 oder 49 – kam Jim Wolf zu uns. Er stammte aus Shelbyville, einem dreißig oder vierzig Meilen entfernten Weiler, und brachte all seine angeborene Lieblichkeit, Freundlichkeit und Schlichtheit mit. Er ging auf die siebzehn zu, ein ernster, schlanker Bursche, arglos, ehrlich, achtbar, ein Geschöpf, das man liebte und an dem man hing. Und er war unglaublich schüchtern. Er blieb eine gute Weile bei uns, konnte diese Eigenschaft aber nie besiegen; in Gegenwart einer Frau, selbst meiner guten und sanftmütigen Mutter, fühlte er sich unbehaglich; und ein Mädchen anzusprechen war ihm ganz und gar unmöglich. Einmal saß er vollkommen reglos da – im Zimmer saßen Damen und plauderten –, während eine Wespe ihn ein Dutzend Mal grausam ins Bein stach; das Einzige, was er sich anmerken ließ, waren ein leises Zucken bei jedem Stich und Tränen der Qual im Auge. Er war zu schüchtern, um sie zu verscheuchen.
    Genau solche Menschen sind es, denen Widrigkeiten widerfahren. An einem Winterabend veranstaltete meine Schwester eine kleine Feier, bei der Karamellbonbons fabriziert wurden. Ich war zu jung, um mich zu beteiligen, und Jim zu schüchtern. Ich wurde früh zu Bett geschickt, und Jim folgte aus eigenem Antrieb. Sein Zimmer lag im neuen Teil des Hauses, und sein Fenster ging auf das Dach des L-förmigen Anbaus. Das Dach lag unter einer zwei Zentimeter hohen Schneedecke, und die Schneedecke hatte eine spiegelglatte Eiskruste. Aus dem Dachfirst ragte ein kurzer Schornstein, in mondhellen Nächten häufig Zufluchtsort für sentimentale Kater – und dies war eine mondhelle Nacht. Ein Baldachin aus verwelkten Weinreben, der sich von den Dachrinnen unterhalb des Kamins bis zu einigen Pfosten erstreckte, bot gemütlichen Unterschlupf, und nach ein, zwei Stunden gruppierte sich die ausgelassene Schar junger Damen und Herren in seinem Schatten. Ihre Untertassen voll flüssigem und glühend heißem Karamell hatten sie zum Abkühlen auf den gefrorenen Erdboden gestellt. Es gab fröhliche Neckereien, Scherze und Gelächter – Salve um Salve. In diesem Augenblick kletterten zwei verrufene alte Kater auf den Schornstein und begannen einen hitzigen Streit; etwa im gleichen Augenblick gab ich es auf, einschlafen zu wollen, und ging hinüber in Jims Zimmer. Er war wach und ärgerte sich über die Kater und ihr unerträgliches Gejaule. Spöttisch fragte ich ihn, weshalb er nicht hinausklettere,um sie zu verjagen. Das wurmte ihn, und tollkühn sagte er, für zwei Cent würde er es machen.
    Es war eine unbesonnene Äußerung; vermutlich bereute er sie, noch ehe er sie ganz getan hatte. Aber es war schon zu spät – er hatte sich festgelegt. Ich kannte ihn; und ich wusste, dass er, wenn ich ihn nur listig genug anstachelte, sich eher das Genick brechen würde, als einen Rückzieher zu machen.
    »Ach, natürlich würdest du’s tun! Wer würde daran zweifeln?«
    Das ärgerte ihn maßlos, und sichtlich verärgert platzte er heraus:
    »
Du
vielleicht!«
    »Ich? Nein, ich denke nicht daran. Du tust doch immer so wunderbare Dinge. Mit dem Mund.«
    Jetzt war er in Rage. Er streifte sich seine Wollsocken über, hob das Fenster an und sagte mit zornbebender Stimme:
    »
Du
denkst, ich tu’s nicht – das denkst du doch! Denk doch, was du willst –
mir
doch egal, was du denkst. Ich werd’s dir zeigen!«
    Das Fenster machte ihn wütend; es wollte nicht einrasten. Ich sagte:
    »Macht nichts, ich halt’s dir.«
    Ich hätte alles getan, um ihm zu helfen. Ich war noch ein Junge und schwebte bereits in einem strahlenden Himmel der Vorfreude. Vorsichtig kletterte er hinaus und hielt sich am Fensterbrett fest, bis seine Füße sicheren Halt gefunden hatten, dann tastete er sich auf allen vieren den gefährlich glatten Dachfirst entlang, auf jeder Seite einen Fuß und eine Hand. Ich glaube fast, ich genieße es heute noch genauso wie damals; dabei ist es beinahe fünfzig Jahre her. Die eiskalte Brise ließ sein kurzes Hemd um seine mageren Beine flattern; in der hellen Pracht des Mondlichts glänzte das kristallene Dach wie polierter Marmor; die ahnungslosen Kater saßen aufrecht auf dem

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