Meine geheime Autobiographie - Textedition
bereitet er sie erst fünfzehn Minuten vor Betreten des Hörsaals vor und verleiht ihnen so eine Frische und einen Glanz, die ihnen abgehen würden, wenn er sie dem Prozess der Übervorbereitung unterzöge; denn dann würden sie abgestanden wirken.
Wenn er wach war, war er unterhaltsam: kultiviert, empfindsam, charmant, liebenswürdig und großzügig. Selber ehrlich, war er ohne Argwohn gegen die Ehrlichkeit anderer und, so glaube ich, nach Geist und Rede der männlichste Mann, den ich gekannt habe. George Dolby war das genaue Gegenteil, dennoch pflegten die beiden sehr freundlichen Umgang miteinander. Dolby war groß und rotgesichtig, voller Leben, Kraft und Energie, ein unermüdlicher dynamischer Redner, der vor Gutmütigkeit schier überschäumte und vor Fröhlichkeit geradezu platzte. Sie waren eine auserlesene und befriedigendeMenagerie, der nachdenkliche Dichter und der gutgelaunte Gorilla. Eine taktlose Geschichte bereitete Stoddard Missbehagen; Dolby erzählte ihm fünfundzwanzig am Tag. Nach meinem Vortrag kam Dolby immer mit uns ins Hotel und unterhielt Stoddard bis Mitternacht. Mich auch. Wenn er gegangen war, lief ich im Zimmer auf und ab und redete, und Stoddard schlief auf dem Sofa ein. Ich hatte ihn als Gesellschafter eingestellt.
Dolby war lange Jahre Agent für Konzert und Bühne gewesen, für Charles Dickens und alle möglichen Shows und »Attraktionen«; er kannte die Menschen in vielerlei Erscheinungen und glaubte nicht sonderlich an sie. Der Dichter schon. Streuner und Stromer fanden in Stoddard einen Freund; Dolby versuchte ihn zu überzeugen, dass er seine Wohltaten an Unwürdige verschwendete, hatte aber nie Erfolg damit. Eines Abends in den Concert Rooms verschaffte sich ein junger Amerikaner Zutritt zu Stoddard und erzählte ihm eine anrührende Geschichte. Er wohne in Surrey, und aus irgendeinem merkwürdigen Grund seien die Geldanweisungen seiner Familie nicht eingetroffen; er habe keine Mittel, sei ohne Beschäftigung und ohne Freunde; seine junge Frau und sein Neugeborenes litten Hunger; könne er ihm um Himmels willen eine Zwanzig-Shilling-Münze leihen, bis seine Geldanweisungen einträfen? Stoddard war tief bewegt und gab ihm eine Zwanzig-Shilling-Münze von meinem Geld. Dolby spottete, aber Stoddard hielt stand. Später am Abend erzählte mir jeder der beiden seine Geschichte, und ich billigte Stoddards Entscheidung. Dolby meinte, wir seien Frauen in Männerkleidern und nicht einmal geistig gesunde Frauen.
In der Woche darauf kam der junge Mann wieder. Seine Frau sei an einer Rippenfellentzündung erkrankt, das Baby habe Dasselfliegenlarven oder etwas Derartiges, ich bin mir nicht sicher, was es war; alles Geld sei für Arzt und Arzneien draufgegangen, die arme kleine Familie hungere. Ob Stoddard »in seiner Herzensgüte noch einen Sovereign erübrigen könne« usw. usf. Stoddard war sehr ergriffen und erübrigte eine weitere meiner Zwanzig-Shilling-Münzen für ihn. Dolby war empört. Er sprach frisch von der Leber weg und sagte zu unserem Kunden:
»Nun, junger Mann, Sie gehen jetzt mit uns zum Hotel und legen Ihren Fall dem anderen Familienmitglied vor. Wenn Sie ihn nicht dazu bringen, anSie zu glauben, werde ich die Wechsel dieses Dichters zu Ihren Gunsten nicht länger honorieren, denn ich selbst glaube nicht an Sie.«
Der junge Mann war dazu bereit. Ich fand an ihm nichts auszusetzen. Im Gegenteil, ich glaubte sofort an ihn und war bestrebt, die Wunden zu heilen, die Dolbys allzu unverhohlene Skepsis ihm geschlagen hatte; deshalb tat ich alles, was mir nur einfiel, um ihn aufzumuntern und zu unterhalten, damit er sich heimisch und behaglich fühlte. Ich erzählte viele Geschichten; darunter die von Jim Wolf und den Katzen. Als ich erfuhr, dass er literarische Kleinigkeiten verfasst habe, erbot ich mich, eine Publikationsmöglichkeit für ihn zu finden. Da erhellte sich seine Miene freudig, und er sagte, wenn ich Tom Hoods
Annual
ein kleines Manuskript verkaufen könnte, wäre dies das glücklichste Ereignis seines traurigen Lebens, und er werde mich stets in dankbarer Erinnerung behalten. Für uns drei war es ein sehr angenehmer Abend, nur Dolby war entrüstet und sarkastisch.
In der Woche darauf starb das Baby. Unterdessen hatte ich mit Tom Hood gesprochen und sein Mitgefühl geweckt. Der junge Mann hatte ihm das Manuskript zugeschickt, und genau an dem Tag, als das Kind starb, traf das Honorar für das Manuskript ein – drei Guineen, rund 60 Shilling. Der junge Mann kam
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