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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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öffnete mein Notizbuch und begann, Drachen zu zeichnen.

Drittes Kapitel
    U ngefähr eine Woche nach Biswicks Ankunft kam Miss Veraleen Holliday während eines unerwarteten morgendlichen Regenschauers in die Stadt. Grandma sagt, unvorhergesehener Regen sei nicht gut und genauso schnell wieder vorbei wie der Tanz der Zikaden. Um Miss Veraleen Holliday ranken sich manche Geheimnisse, denn sie lebt erst seit ungefähr zwanzig Jahren in dieser Gegend. Sie war nie verheiratet - jedenfalls weiß niemand davon -, also gilt sie immer noch als »Miss«, wenngleich Grandma meint, sie sehe eher aus wie ein »Mister«.
    Miss Veraleen fuhr also in ihrem Pontiac GTO Golden-Metallic die Main Street hinunter, mit einem Anhänger, der ungefähr die Größe eines Handkoffers hatte. Es war ein trauriger Anblick, wie ihr gesamtes Hab und Gut vor aller Augen durchnässt wurde. Worin ihre Habe eigentlich bestand, weiß ich nicht. Vielleicht aus irgendwelchen Kräutern und Rezepturen. Kleider besaß sie jedenfalls nicht viele. Niemand hat sie je in etwas anderem als ihrer Krankenschwesterntracht gesehen.
    Es ging das Gerücht, Veraleen sei vom Krankenhaus in Wiskey, in dem sie sich in all den Jahren um unzählige Babys einschließlich mich gekümmert hatte, gefeuert worden, weil sie an einem Säugling eines ihrer berühmten Hausrezepte ausprobiert hatte - mit schlimmen Folgen. Angeblich hatte das Krankenhaus herausgefunden, dass Veraleens einzige Qualifikation ihre altmodische Schwesterntracht war. Auch soll ihr
Arbeitgeber niemals glücklich über das gewesen sein, was Veraleen als »Ranch-Medizin« bezeichnet: Sie behandelte Cowboys und Kühe, half den Babys armer Frauen auf die Welt und kurierte mit ihren Hausrezepten jeden Schwachkopf zwischen Jumbo und Whiskey. Das Krankenhaus habe so lange weggeschaut, bis etwas passiert sei. So sagten die Leute.
    Veraleen kam irgendwoher aus der tiefsten Provinz, aus dem Süden von Texas. Da sie über ihre Vergangenheit nie ein Wort verloren hat, wurden bei ihrem Erscheinen sofort wieder die alten Gerüchte lebendig. Eine Frau stattete Dr. Wilson sogar einen Besuch ab, um ihre »Bedenken« zum Ausdruck zu bringen, doch der Doktor meinte, sie solle sich wegen Miss Veraleen keine unnötigen Sorgen machen. Ihre Behandlungsmethoden seien seit Hunderten von Jahren gang und gäbe.
    Nach Jumbo sind stets viele Menschen gekommen, die etwas zu verbergen haben oder auf der Flucht sind. Ich weiß nicht, warum. Es scheint mir kein gutes Versteck zu sein, auch wenn es am Ende der Welt liegt. Jumbo ist nicht gerade ein verschwiegener Ort. Es mag eine Weile dauern, doch irgendwann wissen alle gewisse Dinge über dich, ob es dir gefällt oder nicht.
    Jumbo liegt inmitten der sogenannten Langgrasprärie. Seine kleinen weißen Art-déco-Gebäude scheinen unter dem riesigen texanischen Himmel schier zu verschwinden. Hier wird nichts von dunklen Schatten aufgesogen. Die Wüstenluft ist kristallklar, als wäre sie von all ihren Sünden befreit. Die Menschen, die hierherkommen, werden gewissermaßen gereinigt. Das sagen zumindest die alten Leute.
    Von jeher gab es in Jumbo praktisch nur zwei Bevölkerungsgruppen: Alteingesessene und Mexikaner. So ist es seit jener Zeit gewesen, als Jumbo nur ein Zwischenstopp der alten Union Pacific Eisenbahnlinie war. Das änderte sich vor fünfzehn Jahren, als die Universität von Harvard einen Stadtschreiber
installierte, der in das Old Man Porter’s House einzog. Der frühere Eigentümer war in der Badewanne gestorben, was zwei Wochen lang niemand bemerkt hatte. Den Dichtern scheint es hier zu gefallen, weil alles in Jumbo, abgesehen vom Namen, so klein und niedlich ist. Ich nehme an, Dichter mögen so was.
    Weitere Künstler kamen und gingen - wie ein stetiger, stiller Strom gespaltener Seelen in schwarzen Rollkragenpullovern. In dieser Zeit des kulturellen Aufbruchs kam auch meine Mutter hierher. Sie wollte unbedingt Künstlerin werden, und Jumbo war damals der angesagte Ort. Allerdings habe ich nie eines ihrer Bilder zu Gesicht bekommen und bin mir ganz sicher, dass sie nach meiner Geburt keinen Pinsel mehr angerührt hat.
     
    Ich drückte mein Gesicht fasziniert gegen das Schaufenster von Mamas Buchladen, als Miss Veraleen wenige Tage nach ihrer Ankunft die Main Street hinunterstolzierte. Ihre robuste Ledertasche baumelte hin und her. Eigentlich starre ich andere Leute nicht so an, doch sie war einfach eine Attraktion hier in Jumbo - vermutlich wäre sie überall eine

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