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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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Attraktion gewesen. Auch alle anderen glotzten unbekümmert, während sie weiter ihrer Arbeit nachgingen. Und es regnete wieder, so wie am ersten Tag ihrer Ankunft - ein sanfter Sprühregen, der alles mit einer feuchten Schicht überzog.
    Veraleen Holliday ist wirklich riesengroß. Dick wäre der falsche Ausdruck, doch alles an ihr ist irgendwie kolossal. Jedenfalls ist sie größer als jede andere Frau, die ich je gesehen habe. Kräftige Knochen. Ein breiter Kopf. Sanfte, riesige Hände. Wahrscheinlich reicht eine Hand von ihr aus, um ein Baby zu wiegen. Enorme Füße. Der einzige Mensch, den ich kenne, der noch größere Füße hat als ich. Dabei ist sie nicht annähernd so alt wie Grandma. Sie ist nur eingetrocknet wie
ein alter Pflaumenbaum, der jahrelang der sengenden Sonne ausgesetzt war.
    Veraleens blonde Haare mit den grauen Strähnen waren zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Grandma meint, dass sie sich das in ihrem Alter eigentlich nicht mehr leisten könne. Merkwürdigerweise hat sie keine anderen Haare, weder Wimpern noch Augenbrauen, gar nichts. Myrtle Bupp hat erzählt, Veraleen habe einer Freundin von ihr in Whiskey unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass sie »hormonelle Probleme« habe. Darum sei ihr Körper so massig und haarlos.
    An diesem Tag trug Veraleen eine alte speckige Männerjeans und ein kariertes Cowgirlhemd, das sie sich in die Hose gestopft hatte. Einziges Überbleibsel ihrer alten Schwesterntracht waren ihre riesigen weißen Schuhe, die wie krängende Boote über das Pflaster segelten. Grandma Birdy sagt: »Hormonelle Probleme - dass ich nicht lache! Sie ist eine Kuh, die besser bei ihrer Herde geblieben wäre.« Doch ich fand, dass sie eine majestätische Erscheinung war, wie sie mit erhobenem Haupt und wippendem Pferdeschwanz die Straße entlangspazierte.
    Zuerst stattete sie unserem Friseur, dem Cut’N’ Curl, einen Besuch ab, dann schaute sie bei der Rexall Drogerie und beim Dairy Queen vorbei und landete schließlich bei Putt’s Chicken Hut, wo ein riesiges Huhn mechanisch Augen und Schnabel bewegt.
    Mit jedem Geschäft, das sie wieder verließ, schien ihre Verärgerung zu wachsen. Als sie plötzlich auf dem Absatz kehrtmachte und das Ferdie’s Doll’O-Rama (ehemals Ferdie’s Five & Dime) betrat, hatte sich ein Begleiter an ihre Fersen geheftet. Biswick spazierte hinter ihr in den Laden.
    Bisher war es mir gelungen, Biswick aus dem Weg zu gehen. Jeden Tag nach der Schule wartete er an derselben Stelle auf
mich - so lästig wie ein Popel, der in der Nase festsitzt. Mit verwirrter Miene, als sei er noch nie von jemandem ignoriert worden, lief er ein Stückchen hinter mir her, ehe ich ihn abschüttelte. Ihm zuliebe werde ich doch nicht mein SGD aufs Spiel setzen. No, Sir!
    Als ich mein Gesicht von der Scheibe löste, hatte meine Nase unterhalb des großen Bs eine schmierige Rotzspur zurückgelassen. Mamas Laden heißt »Die Bücherinsel«. Sie hat ihn quasi ohne jedes Geld gegründet, doch inzwischen gibt es hier sogar eine Tiefkühltruhe für Eiscreme sowie Dichterlesungen und eine Kaffeebar, an der dienstagabends Weinproben veranstaltet werden. »Für Schluckspechte und Herumtreiber«, wie Grandma gern anmerkt.
    Die Tür öffnete sich und Lorelei, Mamas Mitarbeiterin, stürmte herein. »Ratet mal, wen ich gerade getroffen habe!« Sie war völlig außer Atem. Lorelei ist nicht ihr richtiger Name. Eigentlich heißt sie Lettie Lee Carmichael, doch kehrt sie gern die weltgewandte Intellektuelle heraus, obwohl sie Jumbo quasi noch nie verlassen hat. (Ihre gelegentlichen Ausflüge zum Einkaufszentrum von San Antonio kann man wohl kaum als kosmopolitisch bezeichnen.) Ihren texanischen Akzent hat sie sich ebenfalls abgewöhnt und versucht stattdessen, wie Audrey Hepburn, ihre Lieblingsschauspielerin, zu klingen. Manchmal höre ich sie üben, wenn sie glaubt, dass niemand zuhört: »Oh, das ist ganz reizend, Darling, wirklich ganz reizend.«
    Lorelei sagt, sie wolle einen Schickimicki-Hairstyle-Salon aufmachen. Um ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen, trägt sie an jedem Tag des Jahres eine andere Frisur. Heute war der 165. Tag und so langsam schienen ihr die Ideen auszugehen. Sie versuchte, etwas zu verkörpern, was Grandma wohl als »Dorfflittchen« bezeichnen würde, obwohl sie, soweit ich weiß, noch nie einen Freund hatte. Allerdings sieht sie so aus, als hätte sie an jedem Finger einen.

    Mama spähte über den Rand ihrer Katzenaugenbrille, während

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