Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
auf der falschen Seite der Eisenbahnschienen in die Church of the Divine Mercy geht. Grandma findet an Mama eigentlich gar nichts gut. Niemals - nicht gestern, nicht heute und nicht morgen.
Mama sagt, dass ich in meinem zweiten Lebensjahr alles um mich herum genauestens beobachtet habe. Vermutlich habe ich für eine Weile die ganze Welt in mich aufgenommen und mich eines Urteils enthalten. Mama sagt, ich sei auf Papas karierten Sessel geklettert und hätte in die Luft gestarrt wie der alte blinde Hund, den sie früher besaß.
Doch als ich zwei war, begann sogar Daddy, sich Sorgen zu machen. Er schloss seinen Betrieb, das Jumbo Tomato Plant, für einen Tag, damit wir alle zusammen in unserem alten roten Buick nach El Paso fahren konnten. Es war klar, dass es sich um eine bedeutsame Angelegenheit handelte, denn Daddy ist sonst immer bei seinen Tomaten. Ein paar Jahre vor meiner
Geburt hatte er Fleet Perkins das Jumbo Tomatoes abgekauft und damit begonnen, Bio-Tomaten zu züchten. Das Problem ist nur, dass hier jeder aufgrund des Namens mit großen, glatten Tomaten rechnet. Also liefert er seine Ware an die Ostküste, wo Bioprodukte sehr gefragt sind und sich niemand daran stößt, wenn die Tomaten klein und schrumpelig aussehen. Viel Gewinn hat er damit nie gemacht. Grandma sagt, Gott habe Daddy weniger Grips als einer Gans gegeben.
Wie dem auch sei, alle meinten, dass ich stumm sei, weil ich so still wie der Wüstenwind war, der mehrmals im Jahr wie ein Geist durch die Stadt weht und jedem einen Schrecken einjagt. Ich glaube nicht, dass der Arzt Mama weiterhelfen konnte. Sie spricht nur selten über diese Zeit.
Da sie keine Hilfe von außen bekam, ließ Mama nichts unversucht, um die Sache allein in den Griff zu kriegen. Sie bestellte alle erdenklichen Bücher über Kindererziehung und Entwicklungsstörungen. Sie nahm mich jeden Tag in den Laden mit und erzählte mir alles, von der Lehre des Aristoteles bis hin zu den ungeheur tiefsinnigen Versen von Dr. Seuss. Sie redete auf mich ein, als sei ich ein aufmerksamer Zuhörer, und kaufte mir zahllose Märchenbücher, in denen ich stundenlang blätterte.
Schließlich waren ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Ich begann zu sprechen, und nachdem ich die ersten Wörter hervorgebracht hatte, sprudelten die Sätze nur so aus mir heraus. Mir dreieinhalb Jahren konnte ich ganze Shakespearemonologe rezitieren und komplette Kapitel aus Die Schatzinsel und Moby Dick aufsagen. Ich konnte sogar nach Belieben aus dem Telefonbuch zitieren. Ich war ein kleines Genie. Das hochbegabte Mädchen aus Jumbo, Texas. Alle gingen davon aus, dass ich eines Tages weggehen und weltberühmt werden würde.
Doch Mama machte sich immer noch Sorgen. Sie erzählt,
dass ich in unserem Garten stundenlang eine achtförmige Bahn zog und dabei Selbstgespräche führte. Vom Küchenfenster aus schien es so, als würde ich mit meinem einzigen Freund auf der ganzen Welt reden. Grandma blickte ihr über die Schulter und schüttelte den Kopf. »Ich hab dir doch gesagt, Hell-in, dass mit dem Mädchen was nicht stimmt.« Heute tarne ich dieses Herumlaufen weitgehend dadurch, dass ich den Müll einsammele. Doch manchmal kann ich einfach nicht anders, dann marschiere ich auf unserer Einfahrt (die Grandma nicht sehen kann) hin und her wie ein Soldat bei seiner nächtlichen Patrouille.
Als ich in die dritte Klasse ging, sagte meine Lehrerin, Miss Blevins, zu Mama, ich würde zwar ständig erstaunliche und bemerkenswerte Dinge von mir geben, aber das sei auch alles, was ich könne - Gelerntes herunterleiern. Was im Grunde keine außerordentliche Leistung sei. Ich würde die Dinge nicht wirklich begreifen, sondern einfach auswendig lernen, sagte sie und riet Mama, sich erneut an einen Spezialisten zu wenden. Also machten wir uns ein zweites Mal nach El Paso auf. Daddy konnte diesmal nicht mitkommen, weil bei Tomato Plant Liefertag war.
Mama füllte einen Haufen Fragebögen aus, woraufhin alle möglichen Tests mit mir durchgeführt wurden. Während ich eine Reihe von Rechtecken mit meinen Drachen ausmalte, lauschte ich dem allgemeinen Getuschel, schnappte jedoch nur einzelne Wörter wie »Insel« und »hochfunktional« auf. Als meiner Mutter die abschließende Diagnose mitgeteilt wurde, musste ich im Nebenzimmer warten, in dem abgebrochene Stifte und zerrissene Malbücher herumlagen.
Ich höre immer noch das Brummen unseres Automotors, das uns auf der Rückfahrt begleitete. Mama bemühte sich um die richtigen
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