Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Worte. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie sie lange Zeit nach einer geeigneten Formulierung suchte.
Schließlich sagte sie: »Du bist ein ganz besonderes Mädchen und wirst es immer sein. Das ist alles.«
Aha. Ein ganz besonderes Mädchen.
Ich wusste, dass sie etwas weggelassen hatte. Mit verhaltenem Lächeln fuhr sie fort: »Der Arzt sagte, dass viele Berühmtheiten genau dasselbe gehabt hätten, zum Beispiel Einstein und Beethoven.«
Ich hatte schon Fotos von den beiden gesehen. Die Haare standen ihnen so weit vom Kopf ab, dass sie schier wahnsinnig aussahen. Also mit denen will ich nicht im selben Klub sein, vielen Dank. Mir egal wie begabt sie waren. »Dieser kleine Ausflug ist unser Geheimnis. Dein Vater hat schon Sorgen genug, Merilee.«
Ich wusste, was sie meinte. Daddy war schon mit seinen stillen, langsam wachsenden Tomaten überfordert. Wie sollte er da noch eine Tochter verkraften, die irgendein »hochfunktionales Inselproblem« hatte?
Mama stieß einen langen Seufzer aus. »Eines Tages«, begann sie, »wenn du älter bist, wirst du Jumbo verlassen, und dann wird die Welt erfahren, was für ein besonderes Mädchen du bist.«
Doch ehrlich gesagt war mir meine Besonderheit ziemlich egal. Meine einzige Sorge bestand darin, dass Grandma von unserem Ausflug erfahren könnte. Wieder zu Hause, konnte ich mein Glück kaum fassen. Als wir zur Tür hereinkamen, lief Grandma hysterisch durch die Gegend und zerrte Bug hinter sich her. »Sie hat einen Ausschlag am Hals!«, schrie sie meine Mutter an. Mama nahm Bug ruhig in den Arm und besah sich die Stelle, während sich Grandma erschöpft auf das Sofa fallen ließ. Sie hat zu unserem Ausflug nach El Paso nie eine einzige Frage gestellt.
Ich weiß nicht, was Mama Miss Blevins erzählt hat. Ich vermute,
es hat was mit Einstein und Beethoven zu tun, denn von diesem Tag an sah mich diese Lehrerin nicht mehr so merkwürdig an.
Vielleicht werde ich wirklich irgendwann von hier fortgehen. Falls ich den Mut aufbringe. Doch im Grunde weiß ich, dass ich viel zu große Angst habe, mein SGD aufzugeben. Wie sollte ich ohne mein SGD nur weiterleben? Doch Mama sagt immer: »Wenn man einen Berg besteigt, entdeckt man manchmal, dass er nur ein Maulwurfshügel ist.«
Falls ich eines Tages woanders lebe, dann wird das weit, weit weg von hier sein. Vielleicht irgendwo im Umland von New York, wo auch Grandma Ruth gelebt hat. Meine liebe Großmutter. Ich habe nur wenige Erinnerungen an sie, weil sie starb, als ich noch klein war. Ich weiß nur noch, dass sie aussah wie Ms Butterworth - wie die Frau auf diesen Sirupflaschen, die wie eine Großmutter geformt sind. Meine Ms Butterworth-Großmutter. Ich glaube, sie ist die einzige Person auf der Welt, der ich erlaubt hätte, mich zu umarmen.
Viertes Kapitel
I ch blieb lange in Mamas Buchladen, um die neuen Bücher einzusortieren. Als ich zum Essen nach Hause kam, merkte ich sofort, dass etwas anders war als sonst, denn es roch verführerisch nach einer selbst gekochten Mahlzeit. Nach etwas, das von eigener Hand zubereitet und bereits den ganzen Nachmittag hindurch geschmort worden war und nun einen exotischen Duft verströmte, der mit dem Geruch von Mamas Fischstäbchen, ihren Dosenmakkaroni und Fertigeintöpfen nicht das Geringste zu tun hatte.
Mein Großvater, Avery P. Monroe, hat unser Haus im Jahr 1915 gebaut. Es ist ein Fertighaus aus dem Katalog von Sears Roebuck, ein zweistöckiger Bungalow im Stil der damaligen Zeit, der in beiden Etagen vier Zimmer und einen breiten Flur hat. Nachdem er sein Haus zusammengesetzt hatte, machte er sich auf die Suche nach einer Frau. Es muss damals ein ziemlicher Notstand an Frauen geherrscht haben, sonst wäre er bestimmt nicht mit Grandma nach Hause gekommen. Er begegnete Birdy Biedermeyer, wie sie damals hieß, an der Bushaltestelle in Whiskey. Sie hatte einen ramponierten Handkoffer bei sich, sonst nichts. Sie muss irgendwas Besonderes angestellt haben, um ihn in die Falle zu locken, denn wenn ich mir die alten verblichenen Fotos von ihm betrachte, meine ich viel Güte und Intelligenz in seinen Augen zu erkennen. Er starb lange, bevor ich geboren wurde.
Da unser Haus also mit einem langen, breiten Flur ausgestattet
ist, bleibt einem nur wenig verborgen, sobald man zur Tür hineingekommen ist - was gerade in der Küche gekocht wird (nicht viel, seit Grandma uns verlassen hat), ob Daddy oben in seinem Bett schnarcht oder Bug irgendwo im Haus hinter mir herjagt. Genau hier,
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