Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
oder kratzten sich stirnrunzelnd am Kopf. Seit Gideon mich damals verteidigt hatte, musste ich nie wieder auch nur ein einziges Blatt Papier aufheben. Doch meine unsichtbaren Antennen signalisierten mir, dass es noch nicht vorbei war. In der Klasse brodelte es wie in einem von Veraleens Töpfen und jeden Moment konnte der Deckel hochfliegen. Ich bemerkte, wie Gideon die Hand
nach seinem kleinem Rucksack ausstreckte, der auf dem Boden lag.
Seit Gideon wieder bei seiner Mutter wohnte, kam er immer mit diesem Rucksack zur Schule, der ihm quer über die Brust geschnallt war. Außer Cairo, die einmal erklärte, er sehe aus wie die alte stinkende Handtasche ihrer Großmutter, schien sich niemand dafür zu interessieren. Ich fand jedoch schnell heraus, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Ich musste nur eine Minute am Fotoschalter der Rexall Drogerie verbringen, bis Maydell Rathburger mir erzählte, dass Gideon Beaurogard jede Woche einen Film zum Entwickeln bringe. »Der hält sich wohl für einen Künstler«, sagte sie. »Immer nur Schwarz-Weiß-Filme, wer will sich so was schon ansehen? Die müssen wir zum Entwickeln extra nach El Paso schicken.«
Die Schulklingel beendete die letzte Stunde und Mr Bonaparte sammelte die Tests ein. Alle rannten aus dem Klassenzimmer und stoben in verschiedene Richtungen davon. Ich ging zum Fahrradständer. Ich muss mein Fahrrad immer ganz an der Seite anketten, weil es nicht in die normalen Lücken passt. Im selben Moment tauchte Gideon auf.
»Tut mir leid mit deiner Mutter«, murmelte er, während er seine Brille weiter nach oben schob. Ich wusste, dass er es ernst meinte. Ich habe ihn schon mehrmals vor unserem Haus gesehen, wo er hin und her lief wie ein schüchterner Wachposten.
Ich brauchte ein wenig Zeit, ehe ich »danke« herausbrachte.
»Sieh mal einer an!«
Natürlich - die drei Quälgeister. Vor dem Fahrradständer blieben sie stehen. Rechtes Bein vor und rechte Hand auf die Hüfte.
»Trifft sich hier etwa der Behindertenklub?« Cairo, wer sonst? Die anderen kicherten.
Gideon zwinkerte und ich schaute woandershin. Einatmen - ausatmen. Einatmen - ausatmen.
»Schauerlich«, kam mir über die Lippen, ehe ich es verhindern konnte.
»Was ist denn schauerlich, Merilee? Dein Gesicht? Deine Existenz?«, fragte Cairo.
»Wo hast du den kleinen Spasti gelassen?«, fragte Romey. Mona Lisa ließ ihren Arm von der Hüfte gleiten.
»Schauerlich«, sagte ich erneut.
»Warum bildet ihr euch ein, dass hier irgendjemand Wert auf eure Gegenwart legt?«, fragte Gideon.
Romey machte große Augen. In diesem Moment stolzierte Scooter Stunkel mit einem arroganten Haifischgrinsen zu uns herüber.
Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Schauerlich. Schauerlich. Ich kannte all ihre Geheimnisse: Faultiere, tote Frösche, Snickers, Gefängnis, Frankenstein.
Ich versuchte, die Wörter auszusprechen. Ihnen ihre Geheimnisse entgegenzuschleudern. Mein Mund öffnete sich, aber es kam nichts heraus. Wahrscheinlich sah ich aus wie eine wiederkäuende Kuh.
»Was ist los, Drachenmädchen? Hat ein Drache dir die Sprache geraubt?« Das kam von Scooter. Erneutes Gelächter. Gideon ließ seinen Blick von einem zum andern schweifen und versuchte, die Situation abzuschätzen. »Hältst du etwa nach deinem Daddy Ausschau?«, höhnte Scooter. »Der kommt nicht wieder!« Niemand hat Gideons Vater, Buddy Finkle, je eine Träne nachgeweint, nachdem er sich vor vielen Jahren aus dem Staub gemacht hatte.
Ich blinzelte, schwankte und spürte auf einmal, wie mich jemand stützen wollte. Es war Mona Lisa. Ich fegte ihre Hand beiseite und starrte auf einen festen Punkt. Als ich wieder aufblickte,
sah ich Gideon mit schwingendem Rucksack davonfahren.
Als ich nach meiner Müllrunde nach Hause kam, entdeckte ich, dass Grandma Birdy ihre Chance genutzt hatte und unbemerkt in unser Haus geschlichen war. In Bugs Zimmer hatte sie einen großen Handkoffer deponiert und war offenbar mit Schrubber und Eimer durch das Haus gewirbelt wie ein Tornado. Jetzt stand sie in der Küche und kochte einen großen Topf Gumbo. Sie trug Veraleens Kochmütze, als wäre sie eine goldene Krone, doch sah sie damit aus wie eine Irre, die sich einen Kissenbezug über den Kopf gestülpt hatte. Auch Weenie war an der Invasion beteiligt. Selbstgefällig und eingebildet lag er auf Beasies Platz neben der Küchentür. Beasie, Stinkie und Winkie waren ohnehin verwirrt durch Mamas Abwesenheit und hatten das Feld
Weitere Kostenlose Bücher