Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Merilee. Dort gehen alle davon aus, dass man genauso gut an etwas anderem sterben kann.« Sie sog den Rauch tief ein, und als sie ihn wieder ausstieß, stieg er wie ein geisterhafter Nebel in die Dunkelheit und brannte in meiner Kehle. »Ich habe mein ganzes Leben lang mit starken Frauen wie ihr zu tun gehabt, Merilee. Mein ganzes Leben lang«, wiederholte sie. Ich blickte aus dem Fenster, als wir die South Street entlangfuhren.
»Kümmere dich nicht darum, was ich zu ihr gesagt habe«, fuhr Veraleen fort. »Eine Frau wie sie, und es tut mir leid, das sagen zu müssen, verändert sich nie. Meine Mutter und Birdy sind vom selben Schlag, und dass sich meine Mutter nie geändert hat, steht fest. Sie hat ein entbehrungsreiches Leben geführt. Das hat sie hart und niederträchtig werden lassen, so wie deine Großmutter. Dagegen ist kein Kraut gewachsen.«
»Ich weiß«, sagte ich, während ich aus dem Fenster blickte und die gespenstische Innenstadt auf mich zukommen sah. »Alle haben Angst vor ihr.«
»Also ich bestimmt nicht«, sagte Veraleen. »Man muss sie nur zu nehmen wissen. Morgen früh werde ich euch ein paar Kekse in meiner Küche backen. Ich hab immer nur was von Kochrezepten und Heilrezepten verstanden, Merilee. Kochen und heilen. Das hab ich von meiner Mutter und die hatte es von ihrer Mutter.« Sie ließ einen Rauchkringel in die Abendluft steigen und murmelte: »Whiskey bei Mondschein und warmer Sirup … in kleinen Dosen.« Fast hatte ich das Gefühl, Veraleens Mutter säße bei uns im Auto. Ich fröstelte. Biswick schlug die Augen auf und setzte sich ruckartig auf.
»Schlaf weiter, Liebling«, sagte Veraleen sanft und hielt ihre Zigarette aus dem Fenster, damit er sie nicht sah. Dann sank er wieder auf die Seite. Veraleen lachte leise in sich hinein. »Oh Gott, was würde ich darum geben, so leicht einschlafen
zu können. Wer ein reines Gewissen hat, schläft wie ein Baby, sagt man.«
Wie manche Babys, dachte ich. Vielleicht hat mir das Leben von Anfang an Angst gemacht. »Fahren wir wirklich zum Gefängnis?«, fragte ich.
»Yep.«
»Muss das sein?«
»Das wird ihm eine Lehre sein. Ich hätte ihn schon vor ein paar Tagen rausholen können. Aber ich dachte, er soll erst mal einen klaren Kopf kriegen und gründlich über alles nachdenken.«
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte ich. »Außerordentlich.«
»Was?«
»Dass er über alles nachdenkt … auch über Biswick?«
Veraleen lachte. »Im Knast wird dir manches klar.« Sie rollte in die Parklücke. Unser Bezirksgefängnis ist ein großer, schäbiger Betonblock, dessen winzige Fenster so weit oben angebracht sind, dass niemand hinein- oder hinaussehen kann. Für einen Moment blieben wir schweigend sitzen und betrachteten das Gebäude.
»Wissen Sie, dass Biswicks Daddy trinkt?«, fragte ich leise. Sehr leise.
»Wunderst du dich darüber, dass der Papst katholisch ist?«, fragte sie zurück. »Das habe ich zehn Meilen gegen den Wind gerochen, als er Biswick das erste Mal abgeholt hat. Das gefällt mir nicht... gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Dann lassen Sie ihn doch einfach hier und nehmen Biswick zu sich.«
Mein Vorschlag blieb für einen Moment in der Luft hängen. Er schwankte sozusagen hin und her und konnte sich für keine Seite entscheiden. »Das geht nicht«, entgegnete sie schließlich. »Ich werde bald von hier fortgehen, um auf einem Luxusliner zu kochen. Ich werde die Welt kennenlernen.«
Warum sagte sie so etwas? Warum wollte sie überhaupt nach Afrika oder Australien? Musste sie von hier verschwinden, weil sie einem Baby im Krankenhaus geschadet hatte? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Sie hatte mir selbst erzählt, dass es dem Baby gut ginge. Aber was war es dann?
»Das Gehirn von Sheriff Bupp ist so groß wie eine Erbse«, sagte ich warnend, als Veraleen aus dem Auto stieg. So würde Grandma ihn beschreiben und in diesem Fall hätte sie absolut recht.
»Mach dir um mich keine Sorgen, Schatz. Mit dem komme ich schon klar. Ich habe mein ganzes Leben lang Erfahrung mit Cowboys gesammelt - mit echten und mit Möchtegern-Cowboys. Du bleibst hier bei Biswick, ich bin gleich zurück.«
Ich blickte in den samtenen Himmel von Jumbo und fragte mich, ob die Lichter heute Nacht erscheinen würden. Dann betrachtete ich Biswick. Das Sternenlicht ruhte sanft auf seinem unbewegten Gesicht und beleuchtete eine Träne, die ihm über die Wange lief. Ich wollte sie aufhalten und hielt meine Hand einen Millimeter über seine Haut. Ich
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