Meine gute alte Zeit - Teil I
Seelenheil meines Vaters, der an Sonntagnachmittagen bedenkenlos Kr o cket spielte und unbeschwert Witze über Geistliche machte – einmal sogar über einen Bischof.
Mutter, einst leidenschaftliche Verfechterin einer Au s bildung für Mädchen, hatte jetzt, in einer für sie charakt e ristischen Kehrtwe n dung, die entgegengesetzte Stellung bezogen. Bis zu seinem achten Lebensjahr sollte es ke i nem Kind erlaubt sein zu lesen; das wäre besser für die A u gen und auch für den Verstand.
Aber was mich betraf, scheiterten ihre Pläne. Wenn mir eine Geschic h te vorgelesen wurde und sie mir gefiel, bat ich um das Buch und studie r te die Seiten, die, zunächst unverständlich, dann allmählich doch einen Sinn ergaben. Wenn ich mit Nu r sie spazieren ging, fragte ich sie, was die Aufschriften auf L a denschildern und Plakatwänden bedeuteten. Und eines Tages stellte ich fest, dass ich ein Buch – Der Engel der Liebe hieß es – recht gut allein lesen konnte, was ich Nursie sogleich mit lauter Stimme d e monstrierte.
»Ich fürchte, Ma’am«, teilte Nursie Mutter am nächsten Tag mit, »Miss Agatha kann lesen.«
Mutter war sehr bekümmert – aber was sollte sie tun? Ich war noch keine fünf, und die Welt der Geschichte n bücher lag offen vor mir. Von da an waren Bücher meine liebsten Weihnachts- und Geburtstagsg e schenke.
Da ich nun lesen konnte, sollte ich auch schreiben le r nen, meinte Vater. Das war nicht annähernd so vergnü g lich. Immer noch tauchen abgegriffene Hefte in verge s senen Schubladen auf, voll Schnörkel und Schlingen oder wackligen Bs und Rs, die zu unterscheiden mir offenbar große Schwierigkeiten bere i tete, weil ich lesen gelernt hatte, indem ich mir Worte, nicht Buchstaben, ei n prägte.
Dann sagte Vater, ich könnte genauso gut auch rechnen le r nen, und so setzte ich mich jeden Morgen nach dem Frühstück auf die Fenste r bank im Speisezimmer und hatte wesentlich mehr Spaß mit Zahlen als mit den wide r spenstigen Buchstaben des Alphabets.
Vater war mit meinen Fortschritten zufrieden und stolz auf mich. Er überreichte mir ein kleines Büchlein mit »Probl e men«. Ich liebte die »Probleme«. Es waren nur Rechenaufgaben – einfach, aber in faszinierender Verp a ckung. »John hat fünf Äpfel, George hat sechs; wenn John George zwei Äpfel wegnimmt, wie viele wird George am Abend noch haben?« Und so weiter. Wenn ich heute an diese Frage denke, drängt es mich, zu an t worten: »Hängt davon ab, ob George gern Äpfel isst.« Damals aber schrieb ich eine Vier hin und hatte das G e fühl, ein schwieriges Problem gelöst zu haben. »Und John wird sieben haben«, fügte ich aus eigenem Antrieb hinzu. Dass mir das Rechnen solchen Spaß machte, wunderte Mutter, die, wie sie offen zugab, nie mit Zahlen zurech t gekommen war.
Das nächste große Ereignis in meinem Leben war die A n kunft eines Kanarienvogels. Er hieß Goldie und wurde sehr zahm. Er hüpfte im Kinderzimmer herum, saß manchmal auf Nursies Haube und auch auf meinem Fi n ger, wenn ich ihn rief. Er war nicht nur mein Vogel, er brachte mich auch auf die Idee zu einer neuen heimlichen Heldensage. Ihre Hauptfiguren hießen Dickie und Dicksmistress. Sie ritten auf Strei t rossen durch das Land (den Garten), hatten große Abenteuer zu b e stehen und entkamen den bösen Räubern stets nur mit kna p per Not.
Eines Tages aber brach die Katastrophe herein. Goldie ve r schwand. Das Fenster war offen, die Tür des Käfigs aufg e klinkt. Offenbar war er fortgeflogen. Ich weinte den ganzen Tag. Der Käfig wurde vor das Fen s ter gestellt und ein Stück Zucker zwischen die Gitterstäbe geklemmt. Mutter und ich gingen im Garten herum und riefen: »D i ckie, Dickie, Dickie!« Dem Hausmädchen wurde die s o fortige Entla s sung angedroht, weil sie grinsend äußerte: »Den hat bestimmt schon die Katze gefressen« und damit bei mir einen frischen Tränenstrom au s löste.
Ich war schon zu Bett gebracht worden, lag da, zog immer noch hin und wieder die Nase hoch und hielt Mu t ters Hand fest umklammert, als ein munteres kleines Piepsen ertönte. Dickie kam von der Gardinenstange herunte r geschwirrt. Er flog einmal im Zimmer herum und hüpfte dann in seinen K ä fig. Oh, welch unendliches Entzücken! Den ganzen Tag – diesen ganzen nicht enden wollenden, trauervollen Tag – hatte Dickie auf der Ga r dine n stange gesessen.
Nach den Gepflogenheiten jener Tage nutzte Mutter die G e legenheit.
»Siehst du nun«, sagte sie, »wie dumm du
Weitere Kostenlose Bücher