Meine gute alte Zeit - Teil I
deutlich wie möglich zu artikulieren, ohne den Bleistift fallen zu la s sen. Anfangs war das sehr schwer, aber mit der Zeit schaffte ich es.
Boué war wütend, als ich eines Tages die Noten zu »Mein Herz e r schließt sich« aus Samson und Dalila mitbrachte und ihn fragte, ob ich es wohl le r nen könnte, weil mir die Oper so gut gefallen hatte.
»Aber was bringen Sie mir denn da?«, fragte er empört. »Was ist das? Welche Tonart ist das? Das Lied ist in eine andere Tonart umg e setzt.«
Ich erklärte ihm, dass ich die Ausgabe für Sopransti m me g e kauft hätte.
»Aber Dalila ist keine Partie für Sopran!«, brüllte er. »Es ist eine Partie für Mezzosopran. Wissen Sie denn nicht, dass man eine Opernarie i m mer in der Tonart singen muss, in der sie geschrieben wurde? Sie können nicht in eine Sopranstimme umsetzen, was für einen Mezzoso p ran g e schrieben wurde. Nehmen Sie das wieder mit. Wenn Sie sie mir in der korrekten Tonart bringen, ja, dann können Sie die Arie lernen.«
Ich wagte nie wieder, ein transponiertes Lied zu singen.
Ich lernte viele französische Lieder und ein wunde r schönes Ave Maria von Cherubini. Wir debattierten lange über die Fr a ge, wie ich den lateinischen Text aussprechen sollte. »Die En g länder sprechen Latein wie Italienisch aus, die Franzosen h a ben ihre eigene Art, das Lateinische ausz u sprechen. Da Sie Engländerin sind, finde ich, dass Sie es mit der italien i schen Aussprache singen sollten.«
Ich sang auch eine ganze Anzahl von Schubert-Liedern in deutscher Sprache, das war nicht allzu schwer, obwohl ich kein Deutsch konnte. Und natürlich sang ich auch italienische Lieder. Im Großen und Ganzen waren me i nem Ehrgeiz zwar gewisse Schranken gesetzt, doch nach etwa sechs Monaten Studium durfte ich die berühmten Arien »Wie eiskalt ist dies Händchen« aus La Boheme und »Nur der Schö n heit weiht’ ich mein Leben« aus Tosca singen.
Natürlich gab es auch Spaziergänge im Bois – ein wa h res Schmuc k stück der französischen Hauptstadt. Als wir eines Tages in sauberen Zweierreihen einen Waldweg hinuntergi n gen, kam plötzlich ein Mann hinter einem Baum hervor – ein klarer Fall einer unzüchtigen Entbl ö ßung. Wir mussten ihn wohl alle gesehen haben, wahrten aber den Anstand, so als ob nichts Ungewöhnliches vo r gefallen wäre. Möglicherweise w a ren wir aber auch nicht ganz sicher, was wir gesehen hatten. Miss Dryden, in d e ren Obhut wir uns befanden, segelte a n griffslustig wie ein gepanzertes Schlachtschiff an ihm vorbei. Wir folgten ihr. Ich nehme an, dass der Mann, dessen obere Hälfte ko r rekt gekleidet war – schwarze Haare, Spitzbart, el e gante Krawatte – den Tag damit verbrachte, die dunkleren R e gionen des Bois zu durchstreifen, um züchtige junge D a men aus den Pensionaten zu schockieren. Vielleicht hegte er auch den Wunsch, ihre Kenntnisse des Pariser L e bens zu erweitern. Soweit ich mich entsinne, erwähnte keines der Mädchen den Zwischenfall gegenüber einer anderen, nicht einmal ein K i chern wurde hörbar. Wir waren eben durchaus sittsame junge D a men.
Hin und wieder gab es Partys bei Miss Dryden, und bei einer so l chen Gelegenheit erschien auch eine frühere Schülerin von ihr, eine Amerikanerin, die jetzt mit einem französischen Vicomte verheiratet war, in B e gleitung ihres Sohnes Rudi. Rudi mochte ein französischer Baron sein, seinem Aussehen nach war er ein hundertprozent i ger am e rikanischer Collegeboy. Beim Anblick von zwölf heiratsfähigen Mädchen, die ihn mit Interesse, Zusti m mung und möglicherweise romantischen Vorstellungen betrachteten, muss ihm der Schreck in alle Glieder gefa h ren sein.
»Mit dem Händeschütteln allein habe ich mehr als g e nug zu tun«, e r klärte er fröhlich. Am nächsten Tag im Palais de Glace, wo einige von uns Eis liefen und die a n deren es lernten, trafen wir ihn wieder. Ängs t lich bemüht, seiner Mutter keine Schande zu machen, ließ er es auch weiterhin nicht an Galanterie fe h len. Er drehte mehrere Runden mit allen, die sich auf den F ü ßen halten konnten. Ich, wie so oft in solchen Fällen, hatte Pech. Ich hatte erst zu lernen begonnen, und schon am ersten Nachmi t tag war es mir gelungen, den Eislehrer zu Fall zu bri n gen. Damit hatte ich ihn bei seinen Kollegen lächerlich g e macht. Kein Wunder, dass er sehr verärgert war. Er bild e te sich etwas darauf ein, dass er sich gegenüber jede r mann, selbst gegenüber den beleibtesten Amerikaneri n nen,
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