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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Besonders gefährlich scheinen ihm die kleinen, unauffälligen Wesen zu sein: Schnecken, Läuse oder Kröten, von Bakterien und Viren ganz zu schweigen, das sind die Schlimmsten.
    Es herrscht allerdings noch immer keine Klarheit darüber, wie gefährlich die Welt da draußen wirklich ist. Eine Freundin von mir behauptete neulich, alle diese Gefahren seien der menschlichen Phantasie entsprungen, alles sei reine Kopfsache. Wem soll man glauben? Wissenschaftler warnen, Mediziner empfehlen, und Künstler schüren die Angst weiter. In vielen Filmen und Büchern wird beschrieben, wie ein unauffälliges Wesen, eine Schnecke zum Beispiel oder ein kleines Flusskrebschen, im Laufe seiner natürlichen Entwicklung plötzlich mutiert, übernatürliche Fähigkeiten bekommt und alles niedermetzelt, was sich ihm bei der Erlangung der Weltherrschaft in den Weg stellt.
    In alten Legenden ging die Gefahr von märchenhaften Wesen aus, die Griechen beispielsweise berichteten von Gorgonen, geflügelten Mädchen mit Schlangen statt Haaren. Sie hatten etwas Besonderes im Blick und verwandelten jeden in Stein, der ihnen in die Augen schaute. Zur gleichen Zeit gab es noch die Sirenen, Meerjungfrauen, die im Wasser lebten, mit süßer Stimme sangen und Matrosen dazu brachten, über Bord zu springen, ohne sich auszuziehen. In Russland gab es den Räubervogel Solovej, der so stark pfeifen konnte, dass er mit einem Pfiff zehn Reiter von ihren Pferden riss. In Indien glaubte man an die hellblaue Pechschnecke: Wem sie einmal über den Weg kroch, der hatte fortan nur noch Pech im Leben. In Deutschland kann ich mich bloß an die mythischen Gestalten der jüngsten Zeit erinnern: die Potsdamer Todeswanzen, die Menschen in den Kragen fielen und ihnen langsam, aber sicher das Blut aussaugten.
    Die meisten gefährlichen Wesen kamen aus dem Ausland nach Deutschland und sorgten für einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit. Der Rinderwahn kam aus England und wütete einige Jahre, bevor er sich in Luft auflöste. Entstanden war er, weil Kühe in England mit sogenanntem Tiermehl gefüttert worden waren, das aus anderen Kühen bestand. Sie wurden dadurch verrückt, und die Menschen, die die verrückten Kühe aßen, wurden ebenfalls verrückt. Eine Massenhysterie brach aus. Man bekam das Gefühl, die ganze Menschheit würde kurz vor dem Abgrund stehen. Es ging nicht mehr um Heilung, sondern um Schadensbegrenzung. Dabei erzählte man in den Nachrichten, die Kühe wären schon lange verrückt gewesen, sie hätten es bloß nicht gezeigt. Niemand konnte also ganz sicher sein, noch nie ein Stück von einem wahnsinnigen Rind gegessen zu haben.
    Die Rinderwahnsinn-Symptome wurden im Fernsehen lang und breit erklärt, und viele Zuschauer entdeckten sie auch bei sich. Sogar die Vegetarier unter ihnen. Und je öfter darüber im Fernsehen berichtet wurde, desto mehr Opfer wurden registriert. Es war bloß noch nicht ganz klar, wie sich der Rinderwahn genau übertrug: durch den Verzehr von Fleisch oder doch wie die meisten Krankheiten durchs Fernsehen. Alles reine Kopfsache, wie meine oben erwähnte Freundin zu sagen pflegt. Irgendwann verschwand der Rinderwahn von allein aus den Medien. Das Schicksal der übrig gebliebenen Kühe und der betroffenen Menschen interessierte niemanden mehr.
    Es kam die Vogelgrippe. Völlig unerwartet fiel sie quasi direkt aus heiterem Himmel. Die kranken Vögel husteten uns mit ihrer Grippe voll und kackten die Krankheitserreger in Mengen aus. Deutschland drohte in Panik zu versinken. Die Menschen liefen sofort weg, wenn sie einen Spatz nur niesen hörten. In Pankow froren die Schwäne im Teich ein, sie bekamen keine Brötchen mehr. Man machte um alles mit Federn, bis auf die Kopfkissen, einen großen Bogen. Die Menschen verließen ihre Wohnungen nur im Notfall, denn draußen lauerte die Vogelgrippe. Auch diese Krankheit traf ausschließlich Länder, die negativ, ausführlich und Angst einflößend über sie berichteten. In Russland, wo die Zeitungen von Anfang an behauptet hatten, Russen seien durch ihre natürliche Widerstandskraft und große Kälteunempfindlichkeit gegen die Vogelgrippe immun, hat die Grippe nicht zugeschlagen. Im Kaukasus, wo die Menschen grundsätzlich nur südamerikanische Fernsehserien und russische Paraden im Fernsehen kucken, gab es nicht einmal das leiseste Anzeichen einer Vogelgrippe. Die Kaukasier bekämpfen sowieso alle Krankheiten vorbeugend auf die gleiche Art und Weise: mit ihrem hausgemachten Schnaps, der in

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