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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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in dem Hausaufgabenheft zu notieren, beschloss Sebastian jedoch, mit diesen neugewonnenen geometrischen Kenntnissen bei seinen Familienangehörigen anzugeben. Das war ein Fehler. Zuerst fand seine Schwester Nicole vier weitere Ecken an der vierflächigen Pyramide, und seine Mutter zählte dann ebenfalls auf Anhieb zwölf. Meine Schwiegermutter setzte ihre berühmte Superbrille auf, schaute sich die vierflächige Pyramide aufmerksam an und zählte sogar sechzehn Ecken, was uns alle ziemlich irritierte. Sebastian lehnte unsere nach ihm entdeckten Ecken entschieden ab und beschuldigte seine Familie der geometrischen Verblödung.
    »Eine vierflächige Pyramide hat sechzehn Ecken, das weiß ich genau, ich war schließlich auch in der Schule«, bestand die Schwiegermutter auf ihrem Wissen.
    »Ja, aber wann war das! Seitdem hat sich doch schon alles auf der Welt tausend Mal geändert!«, argumentierte Sebastian. »Wann warst du denn das letzte Mal in der Schule? Vor zwanzig Jahren?«
    »Vor dreißig«, flüsterte laut und indiskret Nicole.
    »Vor vierzig«, meinte meine Frau ironisch dazu.
    »Genaugenommen vor fünfzig!«, beendete die Schwiegermutter die Diskussion. »Und es ist wahr, vieles hat sich seit damals bei uns verändert, in der Wissenschaft und in der Natur, beim Staat und im Volk, aber doch nicht bei vierflächigen Pyramiden! Bei denen hat sich nichts geändert, sie hatten damals sechzehn Ecken, sie haben sie auch heute, sie werden sie noch in hundert Jahren haben«, meinte Schwiegermutter pathetisch.
    Wir schwiegen alle, beeindruckt von der Nachhaltigkeit der vierflächigen Pyramide, die jeder Zeit zum Trotz all ihre Ecken und Kanten und Flächen behalten hat und sich auch sonst von keiner Seite anspitzen ließ.
    »Wenn du so klug bist, dann kannst du mir auch bei der folgenden Aufgabe helfen«, meinte Sebastian zu seiner Oma und las ihr die nächste Mathefrage vor: »Ist jeder Körper, der acht Ecken, sechs Flächen und zwölf Kanten hat, unbedingt ein Würfel?«
    Da war selbst die Schwiegermutter überfragt.
    »Alles, was sich würfeln lässt, ist wahrscheinlich ein Würfel«, murmelte sie und ging auf ihr Zimmer, Fernsehen kucken.
     

 
18 -
Das Ende der Welt
aus Sicht des Nordkaukasus
     

     

Weisheit entsteht durch langes Leiden, sagt man, Enttäuschungen und Verluste bringen die Reife. Oft aber benehmen sich Menschen, die viel Not erlebt haben, geradezu kindisch. Diejenigen von uns, die jemals Hunger gelitten haben, bleiben ihr Leben lang sparsam und stehen jeder Art von Überfluss äußerst misstrauisch gegenüber. Meine Großmutter, die im Krieg mit ihren beiden Töchtern nach Samarkand evakuiert wurde, musste dort nach und nach alle ihre Kleider bis auf die Unterhose gegen zusätzliche Nahrungsrationen bei der Evakuierungsküche eintauschen. Natürlich nicht für sich – sie hatte Angst, ihre Töchter würden sich aus Hunger nicht richtig entwickeln. Zu der täglichen Ration in der Samarkander Evakuierungsküche gehörten ein Stück Brot und fünf getrocknete Weintrauben. Diese Weintrauben machten die Kinder verrückt. Wegen ein paar zusätzlichen Weintrauben musste meine Großmutter in Samarkand beinahe nackt herumlaufen. Zum Glück hat die Stadt ein mildes Klima, sogar im Winter scheint dort die Sonne.
    Die Erfahrung des Hungerns hat aber Spuren hinterlassen. Bis ins hohe Alter hinein lagerte meine Großmutter in ihrem Kleiderschrank Lebensmittel, hauptsächlich Süßes: Schokolade, Honig, Gebäck. Die Süßigkeiten lagen jahrzehntelang in Omas Kleiderschrank. Die Kekse verwandelten sich unterdessen in süßen Staub, die Schokolade wurde grau, der Honig hart wie Stein. Sogar wir, die rücksichtslosen Enkelkinder, die jeden Quadratmillimeter in der Wohnung auf der Suche nach abenteuerlichen oder leckeren Sachen durchkämmten, ekelten uns vor Omas Schatz. Nicht einmal im Albtraum wären wir auf die Idee gekommen, die Sachen anzufassen oder sie gar zu essen. Auch meine Oma hat sich nie bemüht, ihren gebunkerten Honig an uns zu verfüttern. Er war Teil ihres persönlichen EdeWe-Vorrats, wie wir ihre gebunkerten Süßigkeiten höhnisch bezeichneten: unantastbare Vorräte für das Ende der Welt. Sie waren nicht zum Essen bestimmt, nicht in diesem Leben. Nach ihrem Tod wurde der Schrank geleert, die Vorräte landeten auf dem Müll.
    Meine Schwiegermutter hatte als Kind in Grosny ebenfalls nie zu viel zu essen. Niemand in ihrer Familie starb vor Hunger, aber Brot gab es eigentlich nur für diejenigen,

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