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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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bleiben. Jedes Jahr noch mehr Käsesorten, noch größere Kartoffeln – man müsse auf der Hut sein. Es werde bestimmt irgendetwas passieren.
    Diese misstrauische Haltung dem Überfluss gegenüber haftet sogar der jüngsten Generation der Familie im Kaukasus an. So hortet zum Beispiel die dreißigjährige Tatjana, die jüngere Tochter des Bruders meiner Schwiegermutter, ihre Vorräte unter dem Bett: Getreide, Buchweizen, Reis – alles für den Fall der Fälle und zwar in einer Menge, die einer fünfzehnköpfigen Familie mindestens sechs Monate das Überleben garantieren würde. Die unverheiratete Schwester von Tatjana interessiert sich dagegen überhaupt nicht für das Ende der Welt. Sie gibt ihr Geld lustig für Strümpfe und Stiefel aus. Tatjana brät ihr Vorratsgetreide einmal im Monat durch, damit sich keine Maden darin einnisten. Trotzdem hält sich das Getreide nicht lange unterm Bett. Vor allem der Buchweizen, den die Familie besonders gerne mag, verdirbt schnell. Nach Meinung des russischen Fernsehens ist das nächste Ende der Welt vorläufig für das Jahr 2012 vorhergesagt worden. Auch Nostradamus und Hollywood teilen diese Meinung. Bis dahin wird der Buchweizen sich nicht halten. »Vergesst nicht, euch fürs Ende der Welt dreißig Kilo frischen Buchweizen zu besorgen. Hahaha!«, lachen wir über die Zukunftssorgen der Familie. Aber wir tun es nicht zu laut, denn auch unsere Rettung wird in dem Vorratslager unter Tatjanas Bett berücksichtigt.
     

 
19 -
Oh, wie gefährlich ist
der Kaukasus
     

     

Die Filmproduktionsfirma Tag und Nacht aus Köln habe ich zufällig kennengelernt. Im Auftrag von arte hatte sie vor, eine Dokumentation über rumänische Musiker in und um Bukarest zu drehen. Sie fragten, ob ich bereit wäre, bei diesem Dokumentarfilm zu moderieren. Ich dachte, warum nicht? Ich war noch nie in Rumänien, hatte keine Ahnung von der dortigen Musikszene, alles passte gut zusammen.
    Nach sechs Drehtagen kehrte ich aus Bukarest fast unversehrt nach Berlin zurück, lediglich mit einer leichten Magenvergiftung, die entweder durch die Verkostung der gekochten Hühner der ältesten Volkssängerin des Landes entstanden war oder während der spannenden Reise durch die unterhaltsame Welt der rumänischen Weißweine in großen Plastikflaschen, die wir gemeinsam mit einem Musiker unternahmen, der sich Zigeuner-Elvis nannte und auch so aussah. Außer diesem rumänischen Doppelgänger von Elvis Presley gab es noch eine Band im einstigen Lieblingsrestaurant von Nicolae Ceaųsescu, eine kommunistische Blaskapelle, die Rapper von Bukarest. Wir haben viel zusammen gesungen. Auf jeden Fall redete ich in den letzten zwei Tagen dort mit sehr tiefer Stimme, verhaspelte mich permanent und bekam beim Moderieren Schluckauf. Der Film kam bei arte trotz Schluckauf gut an, und der Sender bestellte sofort einen weiteren – nicht unbedingt über Rumänien, aber zu einem ähnlich lustigen Thema unserer Wahl.
    So kam ich meinem Traum endlich nahe, einen Film über meine Schwiegermutter zu drehen. Es gibt kaum ein spannenderes Thema, mit dem man sich obendrein so gut auskennt, wie die eigene Verwandtschaft. Mir ging es speziell um die gesamte Verwandtschaft meiner Frau im kaukasischen Örtchen Borodinowka, genauer gesagt in der Steppenstraße, einer ganzen Straße voll von Flüchtlingen aus Grosny. Die Augen der Öffentlichkeit waren während des tschetschenischen Aufstands nur auf die Rebellen, auf die Tschetschenen und die russische Armee gerichtet. Niemand hatte zur Kenntnis genommen, dass damals eine halbe Million Russen aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Darunter auch die Familie meiner Schwiegermutter.
    In ihrem früheren Leben war meine Schwiegermutter Geologin gewesen und ihr Bruder ein Bauingenieur. Auch alle ihre Nachbarn, ebenfalls Flüchtlinge aus Grosny, von den einheimischen Russen »Tschetschenen« genannt, mussten das Leben auf der ehemaligen Rinderfarm im Kaukasus neu beginnen und neue Berufe erlernen. Der Nachbar zur Linken, Juri Wladimirowitsch, von solider Statur und mit einem langen gepflegten Schnurrbart, war in Tschetschenien Direktor einer Musikschule gewesen und hatte Bajanspielen unterrichtet. Sein Vater hatte im Orchester der Roten Armee Trompete gespielt, sein Großvater war Trompeter in der Armee des Zaren gewesen. Juri Wladimirowitsch gehörte einer Musikerdynastie an. Als er gerade sechs Jahre alt war, brachte ihn sein Vater in eine Musikschule, zeigte auf die vielen Bilder von

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