Meine kaukasische Schwiegermutter
»gratis« in dieser Situation bedeuten konnte, da sie nicht einmal das Restgeld von ihrem Fünfzig-Euro-Schein wiederbekommen hatte. Sie war inzwischen zu einer weißen Wand gezerrt, davorgestellt und mehrmals frontal fotografiert worden. Danach brachten zwei Damen sie zurück zur Kasse, wo sie ihre Einkäufe, in Geschenkpapier verpackt, sowie den Fünfzig-Euro-Schein und einen Abzug vom gerade gemachten Foto bekam. Danach wurde meine Schwiegermutter freigelassen.
Nachdem sie auf zitternden Beinen nach Hause gekommen und uns von den erlebten Schrecken erzählt hatte, sagte sie, sie habe sich wie eine Schauspielerin gefühlt, die in einem fremden Stück die Hauptrolle spielen soll, ohne ihren Text zu kennen, ohne überhaupt zu verstehen, worum es in dem Stück ging. Ein furchtbares Gefühl des Versagens. Sie zeigte uns das Foto. Aus dem Bild schaute uns eine total verängstigte Schwiegermutter an, die mit letzter Kraft in die Kamera lächelte. Auf dem weißen Vorhang hinter ihr stand in großen Buchstaben: »Unsere Gewinner-Galerie«.
Den Rest des Abends rätselten wir, was wirklich passiert war. Wahrscheinlich hatte die Schwiegermutter das millionste Blutdruckmessgerät erwischt oder die zehnmillionste Flasche Ketchup oder eine Gewinner-Gurke. Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. Vielleicht war sie die erste Kundin, die Produkte in dieser Zusammenstellung gekauft hatte. Auf jeden Fall kann jetzt jeder, der im Real einkaufen geht, meine Schwiegermutter auf der Tafel der Gewinner-Galerie sehen. Als wir ihr erklärten, was möglicherweise passiert sein könnte, fiel der Schwiegermutter ein Stein vom Herzen. Sie verspürte große Erleichterung und bedauerte gleichzeitig ein bisschen, an dem Tag zu wenig eingekauft zu haben.
17 -
Meine Schwiegermutter
und die Ecken
einer vierflächigen
Pyramide
Alle Kinder aus Sebastians Klasse, die ich kenne, gehen gerne in die Schule. Allein schon um ihre nervigen Eltern für eine kurze Zeit loszuwerden. In der Schule können sie sich in Ruhe über wichtige Nachrichten aus der Welt der Comicliteratur und des Fantasyfilms austauschen, aktuelle Computerspiele besprechen, Tischtennis spielen und einander auf dem Hof mit Anlauf schubsen. Die Schule ist an sich ein netter Ort, er hat nur einen Nachteil: Man muss dort ständig irgendetwas lernen, angeblich Wichtiges fürs Leben. In der Regel werden in der Schule uralte Menschenkenntnisse angeboten, Lebenserfahrungen und Wissensbestände, welche von Generationen gesammelt wurden, die schon längst tot sind.
Wie gehen die Kinder damit um? Es gibt in der Klasse meines Sohnes drei verschiedene Gruppen von Kindern: die Wissensskeptiker, die Pragmatiker und die Optimisten. Zur ersten Gruppe gehören Schüler, die an das Schulwissen nicht glauben, es aber auch niemals hinterfragen. Sie nehmen es einfach so auf, wie es erzählt wird, und kaum haben sie die Schule verlassen, ist schon wieder alles erfolgreich vergessen. Zu der zweiten Gruppe gehören Schüler, die dem Schulwissen ebenfalls misstrauen, aber akzeptieren, dass man lernen muss, um weiterzukommen. Es sind die Pragmatiker unter den Kindern. Die dritte Gruppe besteht aus Schülern, die gar nicht merken, dass in ihrer Schule überhaupt irgendein Wissen vermittelt wird. Das sind die Optimisten.
Mein Sohn gehört zweifelsohne in die Kategorie der Pragmatiker. Er lernt, wenn auch manchmal widerwillig und mit Zähneknirschen. Beim Lernen ist er nicht hochnäsig und nimmt bei der Erledigung besonders lästiger Hausaufgaben gerne auch einmal fremde Hilfe in Anspruch, obwohl diese Hilfe selten etwas Gescheites bringt. Neulich versuchte ich meinem Sohn zu helfen, das Gedicht über eine rappende Ente auswendig zu lernen, indem ich ihm dieses Gedicht immer wieder vorlas und er so tat, als würde er mir aufmerksam zuhören. Das Ergebnis war, dass ich das Entengedicht bereits nach einer Stunde auswendig kannte. Ich hatte es so was von drauf. Ich konnte es rückwärts im Schlaf aufsagen, was aber meinem Sohn wenig nutzte. Es wäre sicher eine lustige Nummer gewesen, wenn er seinen Vater in die Schule mitgeschleppt und vor der Klasse aufgestellt hätte, statt selbst über die Ente zu deklamieren. Sein Fazit war: Eltern sind heutzutage kaum hilfreich bei der Erledigung der Hausaufgaben.
In Mathe bekam Sebastian einmal den Auftrag, alle Ecken einer vierflächigen Pyramide zusammenzuzählen. Er zählte die Ecken zusammen. Es waren acht. Statt sein Ergebnis leise und unauffällig
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