Meine kaukasische Schwiegermutter
die eine spezielle Brotkarte hatten – die Mitarbeiter der Kolchose. Sie bekamen 200 Gramm Brot in die Hand, alle anderen konnten sich von gekochtem Mais ernähren. So ging es während des Krieges und noch eine Weile danach, bis 1947. 1945, als der Krieg zu Ende war, freuten sich alle, außer Wassa Petrowna, der Mutter meiner Schwiegermutter. Sie weinte. Ihr Mann hatte sein Leben auf dem Schlachtfeld gelassen, und auch ihr Bruder kam nicht aus dem Krieg zurück. Sie saß allein da mit drei Töchtern, eine kleiner als die andere. Es gab für sie wenig Grund, sich zu freuen. Und auch die Zeiten des Hungerns waren noch nicht vorbei. Ab 1947 konnte man zwar Brot frei kaufen, so viel man wollte, man hatte bloß kein Geld dafür.
Wassa Petrowna arbeitete in der Kolchose »Morgenröte des Kommunismus«, wo sie für das Gemüse zuständig war. Die Arbeit in der Kolchose war nach Sklavenprinzipien organisiert. Jeder Arbeiter musste eine bestimmte Anzahl von Tonnen Gemüse an den Staat abgeben. Je nach Sorte mussten zwischen den Beetreihen mit dem Staatsgemüse fünfzig bis achtzig Zentimeter Abstand liegen. Zwischen dem Staatsgemüse durften die Kolchosbauern etwas Gemüse für sich pflanzen. Der Anbau für den Eigenbedarf wurde kontrolliert, damit man keine zu große Ernte hatte. Nach Stalins Tod und der Änderung der Richtlinien für die Landwirtschaft durften die Kolchosarbeiter sogar eine eigene Gartenparzelle bewirtschaften, die sich aber weit weg von den Bewässerungsanlagen der Kolchose befand. Manchmal kam Hilfe vom Roten Kreuz, und zwar für die Familien, in denen der Ernährer im Krieg gefallen war. Man munkelte, diese Hilfe käme aus Amerika. Zwar wurden immer wieder Plätze im Pionierlager verteilt, doch die Mutter meiner Schwiegermutter hatte keinen einzigen freien Tag in der Woche. Sie ackerte von morgens bis abends und kam immer zu spät zu Versammlungen, auf denen irgendetwas verteilt wurde. In der Regel waren die Kriegsinvaliden die Ersten in jeder Schlange. Sie hatten viel Zeit und konnten wegen ihrer Behinderung nicht zu Feldarbeiten verdonnert werden.
Der Krieg hatte unterschiedliche Folgen für die Familien. Es gab Veteranen, die mit fünf Koffern aus dem Krieg nach Hause gekommen waren, was aus einer armen Familie prompt eine wohlhabende machte. Es gab andere, die mit leeren Händen zurückgekommen, und ganz viele, die gar nicht zurückgekommen waren. Die Nachbarn von Wassa Petrowna hungerten damals sehr. Sie arbeiteten nicht in der Kolchose, weil sie sich für die Arbeit zu schade waren, und durften deswegen auch keinen eigenen Garten besitzen. Natürlich konnte die Familie meiner Schwiegermutter das nicht mit ansehen. Gleichzeitig konnten sie nicht nachvollziehen, warum diese Menschen, die Hunger litten, nicht arbeiten gingen. Mit der Zeit kam langsam Stabilität ins Leben zurück. Einmal im Jahr kaufte Wassa Petrowna ein Ferkel, fütterte es bis November und schlachtete es dann. Das Schwein war die einzige Fleischquelle. Seine Einzelteile wurden in Salz eingelegt, und mit seinem Speck konnte man ein Jahr lang Kartoffeln braten.
Im Laufe ihres langen leidvollen Lebens kam die Mutter meiner Schwiegermutter zu der unerschütterlichen Erkenntnis, dass Hunger unvermeidlich war. Es gab Phasen des satten und des hungrigen Lebens, die sich abwechselten, das war der natürliche Zustand der Welt. Man musste deswegen stets gegen das Schlimmste gewappnet sein – ohne Mühe war die Not nicht zu besiegen. Deswegen verstand Wassa Petrowna den Überfluss, der mit der kapitalistischen Neuzeit hereinbrach, als apokalyptisches Zeichen. Ihre Lebenserfahrung sagte ihr, dass mit dem Überfluss auf Dauer etwas nicht stimmte. Sie hatte ein eigenes, sehr klares Bild vom Ende der Welt. Wenn es irgendwann einmal zu viel von allen Dingen gibt, prophezeite die Großmutter meiner Frau, wenn die Menschen nur noch Autos und anderen Maschinen hinterherlaufen und Wasser und Brot nichts mehr wert sind, dann kommt ein großer Hunger und rafft die Menschheit dahin.
Wassa Petrowna ging davon aus, dass das Ende der Welt im Jahr 2000 kommen würde. Sie starb 1999 und musste ihren Glauben nicht revidieren. Ihre Töchter und deren Töchter haben diese Überzeugung zum Teil übernommen. Wenn meine Schwiegermutter uns besucht, ist der Kühlschrank schon nach wenigen Tagen nur noch mit Mühe zu schließen. Jeder Krümel wird behalten, nichts wird weggeschmissen. Meine Schwiegermutter sagt, es könne nicht auf Dauer alles so schön sein und
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